Seitdem ich im Herbst 2015 begonnen habe mich intensiver mit der Achtsamkeitspraxis auseinanderzusetzen, bin ich immer wieder über einen Inhalt gestolpert: Die Wertfreiheit. Wie kann ich nicht nur mir selbst, sondern auch anderen offen und urteilsfrei begegnen? Denn wenn wir ehrlich sind: Wir alle kennen Menschen, die wir nicht mögen, die wir verurteilen für gewisse Verhaltensweisen oder Taten. Gerade unter Eltern ist das sehr ausgeprägt. Wer macht was wie. Was füttert der denn da seinem Kind? Um Himmel Willen wie redet die mit ihrem Sohn? Jessas na, die kann doch ihr Kind nicht ohne Mütze raus lassen bei dem Wetter! Wir verurteilen schnell, oft unbewusst und aus Gründen, die uns in dem Moment nicht bewusst sind. Das nicht zu tun, ist eine der schwierigsten Herausforderungen und es hat mich wahnsinnig gemacht nicht zu wissen, wie ich diese annehmen und mich ihr stellen kann.
Die höchste Form menschlicher Intelligenz ist die Fähigkeit zu beobachten ohne zu bewerten.
(Jiddu Krishnamurti)
Tagtäglich ist es mir passiert. Was muss der so laut Musik hören hier in der U-Bahn? Kann die nicht ein bisschen leiser reden? Was sich so manche Leuten zu futtern hinein schieben. Warum hat die ein Handy vor der Nase, wo ihr Kind ihr was erzählen will? Herrje, kann die ihrem Kind nicht mal klar und deutlich sagen, dass es xyz machen soll? Na, so wird das nichts. Und wie kann man mit so einer Frisur umherlaufen?
Schubladen. Vorurteile. Unverständnis. Abneigung. Je nach Stimmungslage waren meine Meinungen über die anderen um mich herum mehr oder weniger ausgeprägt. Und je mehr ich mich gefragt habe, wie ich das abstellen kann, umso schlimmer schien es zu sein. Weil ich nun auch noch mit mir selbst unzufrieden war. Wie soll das gehen? Warum kann ich das nicht? ???
Und dann kam mir ein Zitat von Carl Gustav Jung über den Weg. Einfach so. Im sozialen Netz. Ganz heimlich und unauffällig.
Alles was uns an anderen mißfällt, kann uns zu besserer Selbsterkenntnis führen.
(Carl Gustav Jung)
Aha. Da war es. Was uns an anderen mißfällt… Das ist doch diese Bewertung. Alles, was mir missfällt, verurteile ich. Und nun soll es zu Selbsterkenntnis führen. Wie das?
Ich dachte eine Weile nach. Ich dachte an Menschen in meinem Umfeld, die ich nicht so besonders mag oder an denen mir eben gewisse Verhaltensweisen mißfallen. Und zu welcher Selbsterkenntnis das führen könnte. Und ich war fasziniert. Tatsächlich. Wenn ich also begann jeden Gedanken, der ein Urteil war, auf mich umzulegen und zu fragen: Was mache ich also anders und warum, so war ich ganz plötzlich wieder bei mir und nicht bei dem anderen. Besser noch: Ich konnte auch dort bleiben. Und das versuche ich nun tagtäglich überall und unterwegs. Die vielen U-Bahnfahrten täglich helfen mir dabei sehr. Schwieriger ist es noch bei Menschen im engeren Umfeld, wo sich die Vorurteile oder meine Meinung über sie bereits gefestigt hat. Aber auch hier hilft es zu fragen: Warum bin ich so anders, was ist mir so wichtig daran, so zu sein, wie ich es bin und nicht so wie die oder der? Und ja, ich merke, dass ich einfach so, wie ich bin, zufriedener geworden bin. In vielerlei Hinsicht. Nicht nur die Achtsamkeitspraxis, auch der Weg zum Minimalismus tun mir enorm gut und helfen mir dabei mehr zu mir zu finden, mich mehr zu mögen und mehr bei mir zu bleiben.
Und auch in der Begegnung anderer Eltern hilft mir dieser Ansatz sehr. Gerade als Familienbegleiterin, stets mit dem scheinbar „richtigen“ Ansatz im Kopf unterwegs, wissen, was hier und da womöglich besser für Kinder sein könnte, urteilend, wie andere Eltern handeln und „die armen Kinder“ zu sehen, kann ich nun den Kopf wenden und meine Kinder betrachten. Ich tue, was ich für richtig halte. Ich stehe hinter dem, was ich tue und wie ich es tue. Ich betrachte die Früchte dessen, was ich selbst säe und bin zufrieden oder überlege, was ich ändern kann. Was andere machen, kann ich nur bedingt beeinflussen. Und schon gar nicht durch die Verurteilung anhand einer einzigen Situation im Alltag. Wieso also verbringen wir so viel Zeit damit, andere für ihr Tun zu bewerten? Nun, die Beantwortung dieser Frage wäre wohl einen eigenen Blogpost wert…
Bin ich nun wertfrei, offen und neugierig?
Nein. Im Leben nicht. Davon bin ich noch weit entfernt. Ich bin ja auch in der Achtsamkeitspraxis noch ein Frischling und finde mich in all das erst hinein. Aber ich habe das Gefühl, auf dem Weg zu sein. Auf einem guten Weg.
Und, um mit Eisenhowers Worten abzuschließen:
Verschwende nicht eine Minute mit Gedanken an Leute, die du nicht magst.
(Dwight D. Eisenhower)
Und endlich habe ich einen ersten Ansatz gefunden, das wirklich umzusetzen.
Wie geht es Euch mit diesem Thema? Schafft Ihr es, bei Euch zu bleiben wenn Ihr Menschen seht, die ganz anders sind, anders handeln als Ihr es je tun würdet? Könnt Ihr mit dem Ansatz, statt zu verurteilen ein wenig Selbsterkenntnis zu üben, etwas anfangen?
Hallo liebe Nadine,
ich danke dir für diesen Post!
Klar, kenn ich das – oft unbewusste – Verurteilen anderer Menschen.
Und auch ich hab mich schon soo oft gefragt, wie ich das abstellen kann!?
Das finde ich ziemlich schwer, weil die meisten Gedanken dazu ja unbewusst kommen. Ganz oft – und jetzt lach nicht :D – beim Putzen. Also bei Tätigkeiten, die automatisch ablaufen. Wo man sich nicht mehr konzentrieren muss.
Mir hilft es, Dinge bewusst zu tun. Hast du schon mal versucht, dir die Zähen zu putzen OHNE über 1000 Sachen nachzudenken? Ganz schön anstregend. Aber Übung macht den Meister! :)
Außerdem versuche ich bei mir zu bleiben und den Leuten, die anders sind als ich oder sich anders verhalten als ich, respektvoll zu begegnen und sie so zu nehmen wie sie sind. Und hier könnte ich mir vorstellen deinen beschrieben Ansatz einzufügen, um ganz bei mir zu bleiben! Danke dafür!
Wäre schön, wenn mehr Menschen so sein würden. Dann gäbe es eine friedvollere und liebevollere Welt! :) Aber ein Anfang ist gemacht!
Viele liebe Grüße,
Irene
Ja Irene, das mit dem Zähneputzen versuche ich immer wieder in letzter Zeit, ist wirklich gar nicht so einfach. Aber nicht nur die Zähne fühlen sich hinterher sauberer an, auch der Kopf :) Es geht halt alles nicht von heut auf morgen, aber ein Anfang ist ein Anfang und kann auf einen guten Weg führen. Liebe Grüße!
Ich habe Exerzitien auf der Straße als hervorragendes Übungsfeld erlebt um in die Verlangsamung, in die Achtsamkeit und das genaue Wahrnehmen zu kommen und Bewertungen wegzulassen.
Ein sehr interessantes Thema!
Ich war immer schon der Meinung, jeder sollte so leben und handeln dürfen wie er/sie es für richtig hält. Natürlich ist Rücksichtnahme dabei wichtig.
Im Großen und Ganzen gelingt es mir sehr gut, nicht zu sehr in Schubladendenken und Verurteilungen zu verfallen.
Wenn ich genügend emotionalen Abstand zur Situation habe kann ich die Handlungen anderer Menschen gut nachvollziehen und Verständnis aufbringen.
Schwerer fällt mir das bei mir nahestehenden Menschen, wo ich Handlungen und Situationen dann eher in Persönlichkeitsschubladen und Rollenbilder einordne und die Handlungen sich auch direkt auf mich und mein Leben auswirken.
Wo es mir wirklich schwer fällt Verständnis aufzubringen ist immer dann, wenn Menschen anderen absolut kein Verständnis bzw. offene Ablehnung oder Hass entgegenbringen. Hier versuche ich noch sehr stark an meiner Achtsamkeit und meinem Mitgefühl zu arbeiten.
Danke für den Artikel und den Input wieder einmal darüber nachzudenken wie offen ich wirklich bin, wenn jemand ganz anders lebt und denkt als ich es gewohnt bin…