Turnen: 6

Mit Gipsarm am Kletterbaum
Mit Gipsarm am Kletterbaum

Seit gestern Abend werden auf Twitter heftige Erinnerungen an den Schulsportunterricht geteilt. Wo man genötigt wurde auf Zeit zu laufen, in Höhen zu springen oder sich über Geräte zu schwingen. All das vorzugsweise unter den Blicken der eigenen MitschülerInnen. Für viele ein Horror und heute, Jahre später, noch immer magenverknotende Erinnerung.

 

 

Mir persönlich ging es mit dem Schulsport einigermaßen okay. Solange wir nicht damenhaft gymnastisch verbogen über die Matten hopsen mussten. Schlimmer fand ich das regelmäßige Vorsingen vor der Klasse. Oder das Aufsagen – unter richtiger Betonung und Geschwindigkeit versteht sich – von Gedichten. Balladen vorzugsweise. Mit gefühlten 834 Strophen. Und ich frage mich: WOZU ???

Mir ist es enorm wichtig, dass meine Kinder sich frei entwickeln können. Ihren Fähigkeiten entsprechend. In ihrem eigenen Tempo. So hat Herr Klein die grobmotorischen Meilensteine erreicht, und so wird auch Frau Klein sie erreichen. Das dauert mal länger, mal nicht. Gewisse Meilensteine haben sie schnell heraus, andere brauchen ihre Zeit. Und all das ist ok. Denn was mir dabei unter anderem sehr wichtig ist ist ihr eigenes Körpergefühl. Sie sollen sich ganz spüren können und so bewegen, wie es ihnen gut tut. Sie dürfen klettern, wo sie sich sicher fühlen. Werden zu keinen Höhen motiviert oder gar hinaufgeschoben und keine Rutsche hinuntergeschoben. Klettert Herr Klein zu hoch hinaus und wagt sich nicht mehr runter, hebe ich ihn herab ohne ihn auch nur einmal zu motivieren, es selbst zu versuchen. Er weiß, was er sich zutraut und was er schafft. Und probiert von ganz allein mehr und mehr. Dass er sich nun den Arm gebrochen hat beim einfachen klettern auf einer Holzbank, war wohl eher Pech. Und die Tatsache, dass er noch nicht ganz sicher war mit seinem eben vom Gips befreiten Arm mitschuld. Und ansonsten gehören kleinere Stürze dazu. Eben um die eigenen Grenzen und die der Welt zu erkennen und zu erfahren. Und ernst zu nehmen.

Aber auch die persönlichen Grenzen müssen gewahrt werden. Das bedeutet, dass ich ihn nicht nötige, mir morgens ein Bussi zum Abschied zu geben. Stattdessen muss ich mich immer öfter mit einem „Mama, brauch gar kein Bussi.“ abfinden. Er darf sich Zeit lassen, wenn wir Freunden und Bekannten begegnen und auf meinem Schoß sitzen, bis er in einer Situation „warm“ geworden ist. Er musste bei der Aufführung im Kindergarten nicht mitmachen und auch heute, wenn die Kinder, die dieses Jahr den Kindergarten verlassen, verabschiedet werden, wird er nicht dabei sein. Weil ihn solche Ereignisse (noch) überfordern. Weil er ungern im Mittelpunkt steht. Es ist mir wichtig das zu erkennen und ihn dort, wo er selbst noch nicht entscheiden kann, zu bestärken bzw. seine Ablehnung zu unterstützen.

Ob ich ihm damit wichtige Erfahrungen und freudvolle Erlebnisse nehme? Ich glaube nicht. Denn wenn er nicht zu früh schon an Ereignissen teilnehmen muss, die ihm nicht geheuer sind, bewahre ich seine Grenzen und er kann später selbst entscheiden, ob er sie erweitern möchte und sich ausprobieren will. Dieser Weg erscheint mir sinnvoller, als wenn ich ihn nun zu etwas motiviere und ansporne, was ihn dann so verstört, dass er sich ewig daran erinnert und später nichts mehr wagt.

Wir haben oft Angst unsere Kinder könnten echte Freude versäumen. Aber oft stehen uns unsere eigenen Erfahrungen da im Weg. Nur weil wir an etwas große Freude haben oder hatten, heißt das nicht, dass es unseren Kindern auch so geht. So schaut Herr Klein eben lieber den anderen Kindern im Schwimmbad beim Rutschen zu, anstatt selbst auch einmal zu rutschen. Und das ist okay. Irgendwann wird er selber da runterrutschen wollen. Oder eben auch nicht.

Was mich frustriert ist die Tatsache, dass auch heute noch in den Schulen persönliche und körperliche Grenzen der Schüler überschritten werden. Wo sportliche Leistungen benotet werden. Und kreative. Denn da kann ich nicht mehr einfach sagen „Ich glaube es ist besser Sie lassen Herrn Klein aus dieser Zeremonie heraus.“ oder ihn ganz und gar daheim behalten.
Und solange das so ist, solange Kinder nicht gehört und stattdessen übergangen werden, solange sie als Teil einer Gemeinschaft im Strom mitschwimmen müssen und so ein falsches Bild von Gemeinschaft erfahren, solange werden weiter Menschen ihre eigenen Grenzen überschreiten und damit teils schwerwiegende oder falsche Entscheidungen treffen. Und sie werden auch andere Grenzen überschreiten, weil sie ihre eigenen nicht kennen und somit die der anderen auch nicht spüren (können). Und mit etwas Pech braucht es lange Zeit und Kraft zum eigenen Körper und der eigenen Seele zurückzukehren.

In den ersten zwei Jahren die ich in Schottland gewohnt habe, habe ich viel gekämpft. Ich fühlte mich nur dazugehörig, wenn ich mitgefeiert und mitgesoffen habe. Wenn ich Teil der Kultur war. Spürte ich, dass mir das zu viel wurde, nahm ich mich raus. Aber ich war dabei unsicher und fühlte mich komisch. Ich stand nicht klar und deutlich zu dem, was ich eigentlich fühlte. Und ich ließ andere Menschen körperlich zu nah an mich heran.
Wenn ich heute zurückblicke, so verknotet sich mir der Magen. Weil ich so lange Zeit nicht ich selbst war und weil so viele schöne Erinnerungen getrübt sind durch die Unsicherheit und die Unfähigkeit meine eigenen Grenzen zu wahren.

Natürlich ist daran nicht allein das Vorsingen in der Schule schuld. Oder das Vorturnen am Stufenbarren und die schwunglosen Versuche eines Hüftaufschwungs. Vieles hängt damit zusammen wie unsere Eltern uns durch solche Zeiten begleitet haben. Wie viel sie daheim von uns erwartet haben und unsere Grenzen zumindest verbal bewahrt haben. Denn ein „Jetzt hab Dich nicht so!“ oder „Schau die anderen Kinder machen auch mit und weinen nicht.“ kann nachhaltig zerstören, was uns eine wesentliche Grundlage für das gesunde Überleben in unserer Gesellschaft ist.

Was sind Eure persönlichen Erfahrungen? Wo wurden Eure Grenzen immer wieder überschritten?

Dieser Beitrag hat 7 Kommentare

  1. achtungmama

    Vielen Dank für diesen schönen Text, der Themen anspricht, die mich gerade auch ziemlich beschäftigen. Meine Tochter ist im Verhältnis zu ihren Spielgefährtinnen eher zurückhaltend, sie taut nicht so schnell auf und sprintet auf dem Spielplatz auch nicht so von Gerät zu Gerät wie die anderen. Erst wollte ich ihr die Angst nehmen und habe versucht, sie zu motivieren. Zum Glück habe ich sehr schnell gemerkt, dass sie einfach ihre Zeit braucht, um andere Kinder zu beobachten und dann ganz von selbst Dinge ausprobiert, wenn sie sicher ist. So wie es bei mir als Kind eigentlich auch war.
    Ich bin sehr froh, dass ich das erkannt habe, und sie nicht guten Willens drängle.

    1. buntraum

      Interessant ist doch, dass wir oft wissen, dass es uns als Kind genauso ging. Und wir glauben, es würde helfen, sie zu motivieren und ein wenig zu „schubsen“. Damit sie es einfacher haben, oder besser. Dabei war das doch genau das, was wir selbst dann erst recht abgelehnt haben. Ging mir zumindest so, ich habe auch immer ewig gebraucht bis ich mich irgendwo wohl und frei gefühlt habe.

  2. Anitram

    Mein Kind soll sich auch frei entwickeln können, und ich denke dass die Haltung der Eltern dafür sehr wichtig ist. Wenn eine Basis an Selbstgefühl und Selbstwert bereit steht ist der Leistungsdruck in der Schule und im leben glaube ich auch leichter zu ertragen. Und ganz davor schützen können wir sie in dieser Gesellschaft eh nicht.
    (Zugegeben: bei manchen Erzählungen aus der institutionalisierten Erziehung und Bildung wäre mir schon danach, mein Kind selbst zu unterrichten und ihm Schule zu ersparen.)

    1. buntraum

      Ja, meine Hoffnung ist auch, dass wir unsere Kinder auch gut durch die „böse Regelschule“ begleiten können, dass wir sie innerlich gut stärken können. Tun wir unser bestes! (und ja, hin und wieder träume ich auch vom Homeschooling…)

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