Das muss er doch lernen. Da muss er durch.

IMG_9078Nicht alles haben können. Teilen. Warten. Ein- und durchschlafen. Grüßen. Bedanken. Leise sein. Ruhig sein. Brav sein. Empathie. Die Klobenutzung. All diese und viele andere Dinge muss ein Kind doch lernen.
Zumindest ist das oft die weitreichende Meinung. 

Zweifelsohne müssen Kinder gewisse Dinge lernen. Vielmehr wollen sie diese Dinge lernen. Was wir als Erwachsene lernen müssen, ist, ihnen zu vertrauen. Denn zwischen „Das muss er lernen.“ und „Das muss er lernen.“ liegen Welten. Große, weite Welten.

Kinder lernen von früh bis spät. Sie lernen beim Aufstehen, dass Mama morgens anders tickt als Papa. Sie lernen, dass der Lieblingskäse mal aus ist. Und sie lernen, dass sie die festen Schuhe anziehen müssen, weil es regnet, obwohl sie die Sandalen wollen. Sie lernen beim Spielen unterschiedliche Farben, Formen, Materialien, auch, wenn ich das nicht bewusst fördere. Sie lernen beim Mittagessen heiß und kalt zu spüren und unterschiedliche Geschmäcker. Nachmittags auf dem Spielplatz lernen sie das Teilen oder Nichtteilen und dessen dazugehörige Gemütszustände. Im Supermarkt lernen sie das Habenwollen und nicht alles haben Können. Auf dem Heimweg lernen sie das schnelle Laufenwollen und Nochnichtkönnen, Sie Lernen Hinfallen und Schmerzen – die Schwerkraft und ihre Folgen. Am Abend erfahren sie Müdigkeit und ihre Facetten.

All das und vieles mehr lernen sie Tag für Tag. Jeden Tag. Immer wieder neu.

Wir können uns nun hinstellen, und immer wieder betonen, dass das nun der Lauf der Dinge ist, das Leben, und man dieses und jenes eben lernen muss. Eine schmerzhafte Impfung. Dass Mama kurz allein aufs Klo will. Da muss er durch. Nur stelle ich mich als Erwachsener dabei drei Stufen über die Gefühle des Kindes. Und fahre brachial mit der Eisenbahn darüber hinweg. Ja, das ist das Leben. Doch anstatt das zu betonen, kann ich vermitteln: Das ist schwer. Das tut weh. Das ist unangenehm. Es macht wütend. Traurig. Manchmal Angst. Der Lerneffekt bleibt der Gleiche. Vielmehr noch: Er wird intensiver. Weil die Gefühle eben wahr- und ernstgenommen werden. Weil eine Situation viel intensiver erlebt wird. Weil sich liebevoller, sicherer Halt auf eine Lernerfahrung positiv auswirkt.

Häufig spielen Angst und Unsicherheit beim Erwachsenen mit. Angst, dem Kind nicht rechtzeitig genügend zu vermitteln. Egal ob Wissen, Sozialverhalten, Wahrnehmung. Nicht genug auf das Leben da draußen vorzubereiten. Also berufen wir uns auf ein „Das muss er doch lernen.“ Und dann lehren wir das Teilen. Dann forcieren wir ein „Hallo“ oder „Danke“. Dann wischen wir ein vermeintlich kleines Aua mit einem „Das is ja nix, is gleich vorbei.“ weg und glauben, so lerne er Aufzupassen.

Aber dieses Lehren, dieses überfahrende Abwinken unter dem Deckmantel des Lerneffekts, ist schmerzhafter als ein geklemmter Zeh. Natürlich muss man durch einen gebrochenen Arm durch. Auch durch eine kurze Trennung von der Mama oder die vom Papa verweigerte Schokolade. Durch die vielen Geschenke beim Geburtstag des jüngeren Bruders, die dem älteren nicht gehören. Aber mit liebevoller Begleitung ist es nicht mehr so ein „Durchkommenmüssen“ sondern ein Hindurchbegleitetwerden und dabei erfahren, wie es sich wirklich anfühlt. Ein Gestärktwerden für weitere solcher Erfahrungen. Ein gemeinsames Lernen von Strategien und Möglichkeiten, die Situationen angenehmer zu durchleben. Ist es nicht das, was wir uns für unsere Kinder wünschen?

Ich wünsche mir dazu mehr Vertrauen in die Kinder. In ihre Aufmerksamkeit und Beobachtung des Lebens, in ihr Bestreben danach, so sein zu wollen wie wir und unser Verhalten zu Imitieren. Darin, dass sie von und mit uns lernen. Denn dann lernen sie, wann wir Bitte oder Danke sagen, Hallo oder Tschüß. Sie lernen um etwas zu bitten, statt wegzunehmen. Sie lernen ihren Körper und ihre Wahrnehmung kennen und ihre Grenzen ernst zu nehmen. Sie lernen mit Schmerz und Wut umzugehen. Sie lernen uns zu vertrauen. Und sich selbst. Und das ist die beste Vorbereitung auf dieses Leben da draußen. Auf die große, weite Welt.

 

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. Nadja

    Ach, wie schön, soetwas beim Morgenkaffee zu lesen. Toller Text. Tolle Gedanken. Ich versuche das in letzter Zeit auch immer öfter und es tut meinem Kind und mir gut: mich in ihn reinzuversetzten. Nachzufühlen, was er fühlt. Zu überlegen, warum er gerade nicht das tu, was ich möchte oder andersrum. In Kinder vertrauen – genau. Das ist wichtig! Ganz liebe Grüße, Nadja

  2. Heike Seibüchler

    Danke für die schönen Gedanken!

  3. waterchocolate

    Zum Thema „müssen“: Niemand muss irgendwas. Nur sterben müssen wir alle. Ansonsten lassen sich die Dinge sehr entspannt durch „Wenn-dann-Aussagen“ sehen: „Wenn du in der bremsenden Bahn nicht umfallen willst, dann musst (bzw. kannst/solltest/darfst/ist es sinnvoll, dass…) du dich festhalten.“
    „Wenn du nicht frieren willst, dann solltest du etwas anziehen.“ etc.
    Hier geht es dann plötzlich nicht mehr ums MÜSSEN, sondern ums WOLLEN. Und das fühlt sich doch direkt nach Freiheit an. Und nach Entspannung.
    Wer aber sind wir, dass wir bestimmen wollen oder auch nur immer schon wissen wollen, was unsere Kinder WOLLEN (und sollen)!? Sich in Straßenbahnen festzuhalten und im Winter warme Klamotten anzuziehen sind aber keine Naturgesetze, nichts was sein MUSS. Auch wenn es Dinge sind, die uns sehr logisch, sinnvoll, wichtig, gut, richtig u.v.m. erscheinen.
    Wenn wir also das Wollen junger Menschen sehen, annehmen, ernst nehmen und berücksichtigen möchten, bleibt als nächster Schritt, unsere eigenen Bedürfnisse bewusst und transparent zu machen und dann nach Lösungsstrategien zu suchen, die möglichst viele der Bedürfnisse ALLER Beteiligter befriedigen.
    Sicherlich anstrengender und zeitaufwendiger als schnell mal zu behaupten, dieses oder jenes MUSS jetzt so sein. Aber auch respektvoller und beziehungsförderlicher!

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