Herr Klein ist viel selbständig im Haus unterwegs mit seinen Freunden. Manchmal stürmt er nur herein, ruft „Wie gehen Fußball spielen!“, holt seine Fußballschuhe und rauscht wieder ab. Ich weiß eigentlich nie so recht, wo im Haus er ist. Und wenn es Zeit zum Abendessen ist, musste ich ihn oft suchen. Das war zuweilen anstrengend, wenn auf dem Herd Essen köchelte und zwei andere Kinder hier in der Badewanne saßen. Also haben wir nun ausgemacht, dass er abends um 6 daheim ist und das liegt in seiner Verantwortung.
Manchmal kommt er Punkt 18Uhr, manchmal erst 18.15Uhr. Aber wenn er um 18.12Uhr mit einem „Sorry, dass ich so spät bin.“ in der Tür steht, dann bin ich einfach nur dankbar über seine Selbsteinschätzung.
Zutrauen statt Druck
Ich erinnere mich noch, als er im Kindergarten war und mir gesagt wurde, er müsse endlich lernen sich selbst anzuziehen, weil sie in der großen Gruppe dann nicht mehr die Zeit hätten alle Kinder anzuziehen. Ich verstand diesen Druck nicht, denn mir war damals schon eines klar: Wenn ich mit Druck versuche ein Kind zur Selbständigkeit zu bewegen, werde ich vermutlich genau das Gegenteil erreichen. Stattdessen ließ er sich gern von mir die Schuhe an- oder ausziehen. Und ich hatte Vertrauen, dass er das selbst tun wollen würde, wenn er soweit war. Natürlich gab ich ihm die Möglichkeit, fragte ihn oder sagte: „Ich weiß, dass Du das allein kannst, aber ich helfe Dir gern.“
Selbstvertrauen und Selbstsicherheit stärken
Selbständigkeit ist so ein großes schweres Wort geworden. Wir fürchten uns vor den sogenannten Tyrannen, die uns das Leben schwer machen, sich bedienen lassen und nicht für sich selbst sorgen. Dabei sind es genau die Kinder, von denen Selbständigkeit zu früh und zu vehement gefordert wird, die in diese inaktive Haltung verfallen. Sie kooperieren nicht, sie tun Dinge widerwillig oder gar nicht. Da wollte ich nicht hin. Und was viele nicht verstehen: Selbständigkeit hat sehr viel mit Beziehung, Selbstvertrauen und Selbstsicherheit zu tun.
Wenn ich von meinen Eltern zu hören bekomme, ich müsse das jetzt endlich können, dann wirft das mein Selbstvertrauen in die Ecke und ich fühle mich falsch oder fehlerhaft. Wenn ich aber das Gefühl bekomme, ich darf selbst entscheiden, wozu ich bereit bin ich was ich heute probiere oder lieber morgen, dann fühle ich mich in mir selbst sicher und kann viel besser spüren, was ich wirklich kann und was nicht. Ich kann mir Dinge zutrauen oder eben nicht. Und genau DAS ist es doch, was ich mir für meine Kinder wünsche. Dazu braucht es aber eben eine gute Beziehung und Basis zum Kind. Ich muss mein Kind kennen, spüren und einschätzen, was es kann und was nicht, wobei es sich wohl oder unsicher fühlt und es genau dort abholen.
Selbständigkeit ist also ein Wechselspiel zwischen einem guten Miteinander, einem Zutrauen und Vertrauen, dass das Kind sich in seinem eigenen Tempo entwickeln will und dem Loslassen. Das ist so ähnlich wie ein Kind, das Stiegen steigen lernt. Da gehe ich anfangs noch unterhalb vom Kind um sicherzugehen, dass es nicht hinunterfällt, was einfach wirklich böse enden kann. Aber je mehr ich sehe, wie sicher er die Stufen nimmt, wie vorsichtig er Schritt für Schritt auf oder ab geht, umso weiter distanziere ich mich und gebe ihm seinen eigenen Bewegungsraum.
Ein gemeinsamer Tanz
Und so ist das nun auch mit der Uhrzeit und der Eigenverantwortung zwischen Freunden und Familie zu wechseln. Natürlich stellen wir die Regeln auf. Als er noch nicht so darauf bedacht war, auf die Uhren zu schauen, die zur Verfügung standen weil er seine mal wieder nicht dabei hatte, ging ich los und suchte ihn ein. Verärgert sagte ich ihm dann, dass er dann auch nicht die große Freiheit des endlosen Spielvergnügens genießen könne, wenn er sich nicht an die Regeln daheim hält. Mittlerweile kommt er wie gesagt recht pünktlich heim (nur nie zu früh natürlich). Und dieses Ausmachen, Reflektieren und Neuverhandeln braucht es eben, damit Kinder selbständig werden können. Sie brauchen eine Leine von uns, die ihnen Raum gibt aber klare Grenzen hat. Ein sicherer Hafen, in dem sie sich frei entwickeln können. Denn Kinder wollen selbständig werden, sie wollen vieles allein schaffen und uns zeigen, wie groß sie schon sind. Nur wenn sie sich in sich selbst unsicher fühlen, dann fehlt ihnen eben die nötige Selbsteinschätzung und das Selbstvertrauen, das zu schaffen. Selbstständigkeit ist ein gemeinsamer Tanz, bei dem beide mal die Führung übernehmen.
Das gleiche gilt hier für den Schulweg. Herr Klein wollte in der ersten Klasse schon gern allein gehen. Prinzipiell ist der Weg nicht weit, aber er führt über eine sehr große Straße. Ich habe Vertrauen, dass er das gut schafft, weil er die Ampel kennt und auch Respekt vor der Kreuzung hat. Also habe ich ihn oft gehen oder mit dem Bus fahren lassen. Dann gab es Phasen auch jetzt in der dritten Klasse wieder, wo er möchte, dass ich ihn abhole. Und da diskutiere ich nicht mit ihm. Denn ich will, dass er die wirkliche Selbständigkeit mit einem guten Gefühl für sich erreicht. Wenn er unsicher ist oder lieber möchte, dass ich ihn abhole, dann ist das für mich okay. Kinder durchleben verschiedenste Phasen. Sie werden groß und dabei fühlen sie sich zuweilen einfach wieder sehr klein oder unsicher, vor allem, wenn sie wichtige Entwicklungsschritte – auch wenn die nicht immer sichtbar sind – durchleben. Da brauchen sie unsere Sicherheit und die möchte ich ihnen so gut es geht geben.
Feedback und Wertschätzung statt Lob
Es braucht dabei kein Lob, es braucht Feedback und Rückmeldung. „Ich find es super, dass Du jetzt abends allein heimkommst, das macht es mir hier wirklich leichter, danke.“ Das ist ein einfaches Zeichen an ihn, dass ich diese einzelnen Schritte sehe und er spürt noch einmal genau, dass sich hier etwas bewegt. Er wird immer mehr ein bewegliches selbständiges Familienmitglied, auf das man sich verlassen kann. Und das braucht es einfach, damit das ganze Gefüge hier gut funktionieren kann.
Loslassen
Dabei heißt es auch Loslassen. Immer wieder Loslassen. Er will zum Supermarkt, schnappt seine Geldbörse und geht. Ich weiß nicht, was er kauft und er betont: „Ich kann von meinem Taschengeld kaufen was ich will.“ Und da hat er weitestgehend recht. Da muss ich die Hände, die ihm das Geld gegeben haben, in die Hosentasche schieben, seufzen und ihm vertrauen. Nein nein, er kauft dort keine argen Sachen, es sind nur Chips oder Süßigkeiten. Aber während ich da bisher die Hand drauf hatte, wieviel sie davon bekommen, so ist das nun einfach vorbei. Er kauft und teilt es mit seinen Freunden. Irgendwie ist das ja auch schön und gut so.
Und so gehen wir hier auf Wanderpfaden mit unseren Kindern mit, lassen uns einmal von ihnen ein Stück den Weg zeigen, halten kurz fest und inne, lassen sie mal allein links abbiegen und behalten sie doch gut im Auge. So gut es eben geht. Und ich bin einfach unfassbar gespannt, wohin die Reise gemeinsam noch gehen wird.
Danke für diese Zeilen. So schön!
vielen lieben Dank!