Erkenntnisse der Woche – Selbständig heißt nicht allein

IMG_8263In sämtlichen Erziehungsratgebern als auch von pädagogischer Seite wird vor allem eines immer wieder gepriesen: die Erziehung zur Selbständigkeit. Auch uns ist das immer wieder über den Weg gelaufen. Im Kindergarten, bei Kinderärzten… Kinder sollen möglichst früh selbständig essen, selbständig aufs Klo gehen, sich selbständig anziehen können etc. Allein spielen und überhaupt recht unabhängig von den Erwachsenen – von uns – sein.

Und während ich ja da oft konform gehe und natürlich der Meinung bin, dass eine gewisse Selbständigkeit wichtig und gut für uns alle ist, so sehe ich da einen Trend besonders in die falsche Richtung laufen.

Diese Woche führte ein Ereignis zu einem ziemlich außergewöhnlichen Gespräch zwischen dem Liepsten und mir. Wir beide trafen eine Entscheidung im Kopf, die, wenn sie je zur Ausführung gekommen wäre, unser Leben komplett auf den Kopf, um 180° und von innen nach außen gekrempelt hätte. Alles nur, um anderen zu helfen. Es ging dabei weniger um uns, als um andere, die, so schien es in dem Moment, Hilfe gebraucht hätten. Und wäre es so weit gekommen, dann… ja.

Mich ließ das natürlich lange nicht los. Was mich aber besonders beschäftigte war der Aspekt, dass wir so oft gar nicht wissen, nicht ahnen, nicht glauben wollen, was andere für uns tun. Und dass sie das mit vollem Herzen, ohne dem Wunsch nach ewigem Dank oder Gegenleistungen tun würden. Weil wir ihnen etwas bedeuten, weil sie das für selbstverständlich halten und weil sie es gern tun.

Doch unsere Gesellschaft ist davon abgekommen um Hilfe zu bitten. Geschweige denn, sie anzunehmen, auch wenn sie uns angeboten wird. Jeder kämpft für sich allein. Jeder macht sein Ding und schaut, wie er am besten durchkommen. Und wenn wir anstehen, dann haben wir wohl etwas falsch gemacht und müssen die Konsequenzen ausbaden. Oder eben da durch. Was auch immer es ist.

Wenn wir unseren Kindern immer wieder vermitteln, dass sie doch alt genug, groß genug und fähig genug sind, um nun dieses, das und jenes allein zu tun, wenn wir ihre Bitte um Hilfe -wie auch immer die aussehen mag (Weinen, Jammern, Schreien, Toben) abschlagen, weil wir glauben, das Kind müsse doch endlich selbständiger werden, müsse doch früh und rechtzeitig lernen, sich allein durchzukämpfen, dann tragen wir unseren Teil dazu bei, dass diese Gesellschaft immer mehr auf Einzelkämpfer baut. Auf Menschen, die glauben, zu versagen, wenn sie etwas nicht allein können. Menschen, die verzweifeln, weil sie nicht auf die Idee kommen, nicht den Mut haben, um Hilfe zu bitten. Hilfe anzunehmen.

Selbständigkeit bedeutet nicht, alles allein und für sich selbst zu können. Es bedeutet, allein einen Weg zum Ziel zu finden. Auch wenn man hier und da einen Hilfsweg einschlagen muss. Selbständig um Hilfe zu bitten scheint mir ebenso notwendig, wie selbständig etwas tun zu können. Denn das Ziel bleibt das Gleiche. Und nach Rom führen viele Wege.

Fällt es Euch leicht um Hilfe zu bitten? Könnt Ihr Hilfe gut annehmen? Oder seid Ihr eher Einzelkämpfer, die sich winden, bevor sie Hilfe suchen?

Dieser Beitrag hat 6 Kommentare

  1. Gabi

    Ein sehr guter Gedanke!!! Wie sollen die Kleinen lernen, Hilfe anzunehmen und bei Bedarf auch zu geben, wenn nicht so? Ich glaube nicht, dass die Selbständigkeit dadurch zu kurz kommt, es sei denn, das Ganze artet in ein einseitiges, unüberlegtes Verwöhnen und Überumsorgen aus!
    lieben Gruß
    Gabi

  2. Matze

    Da kann ich dir nur absolut recht geben.

    „Selbständigkeit bedeutet nicht, alles allein und für sich selbst zu können. Es bedeutet, allein einen Weg zum Ziel zu finden.“

    Besser kann man das nicht ausdrücken! Wenn man dies verinnerlicht, nimmt es eine ganze Menge Druck aus der Erzieherei. Ich kann seid dem wieder freier mir selbst nachgeben und unterstützend helfen, Wege und Methoden zeigen.

    Ich selber helfe sehr gern und das immer absolut bedingungslos. Leider kann ich weniger gut nach Hilfe fragen. Die Gründe dafür? hm Zahlreich und vielschichtig und vor Allem habe ich negative Erfahrungen gemacht.

    Matze

  3. Ines

    Vielen Dank für diesen Denkanstoss zum Wochenanfang. Ich kann mich meinem Vorredner Matze nur anschließen – wenn man (ich) es so betrachtet, nimmt es einem (mir!!!) enorm viel Druck weg – und zeigt mir einmal mehr einen (ebenso möglichen) Weg nach Rom. Toll geschrieben!
    Mir selbst fällt es wahnsinnig schwer Hilfe anzunehmen oder überhaupt darum zu bitten. Es war bei uns ein Erziehungsideal und je eigenständiger ich war – umso eher wurde gelobt. Lob war dann gleich Liebe und so steigerte sich das in eine Spirale, von der ich hoffe, das mein Kind sie nie kennenlernen wird.
    Umso wichtiger für mich, Hilfe auch mal anzunehmen und die vielen Wege nach Rom im Alltag einfach vorzuleben.

  4. Andrea

    Ein echt interessanter Ansatz! Danke für diesen Gedankenanstoss!

  5. Jela

    Sehr dankbar bin ich für diesen Gedankenanstoß! Wie wahr! Mir selbst fällt es unheimlich schwer, Hilfe anzunehmen, geschweige denn, darum zu bitten. Hab Angst vor einem „Korb“, Angst davor, schwach zu wirken. Gebe aber sehr gern, helfe gern. Man ist aber tatsächlich die meiste Zeit Einzelkämpfer, auch, wenn man die eigene kleine Familie mal als Ganzes betrachtet, versuchen wir immer, aus eigener Kraft weiter zu kommen, den Alltag zu meistern usw. Wahrscheinlich sollte man mal einen Versuch starten, davon abzulassen… Danke.

  6. Katharina K.

    Ha, erwischt, ich tue mir auch unheimlich schwer, um Hilfe zu bitten. Das liegt zum einen sicher an der Herkunft, zum anderen an Kommentare a la „Du bist ja so stark/taff/belastbar/…“ lassen irgendwie auch zukünftig keine Schwäche zu. Klar ist das in den Moment als Kompliment gemeint, aber es drängt einen auch in eine Ecke/Rolle, die es schwer macht, nach Hilfe zu fragen…
    Danke, dass Du das Thema angeschnitten und so schön ausformuliert hast, das lädt ein zum „weiterverarbeiten“!

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