Das Selbst in Selbständig

IMG_8262Ein Grund, warum wir Herrn Klein aus dem ehemaligen Kindergarten nahmen, war der dortige enorme Druck in Richtung Selbstständigkeit. Montessoris Ansätze wurden da meiner Meinung nach mal wieder komplett fehlinterpretiert, überzogen und dogmatisch umgesetzt. Wie das viel zu oft der Fall ist.
Ein Kind in die Selbständigkeit zu begleiten heißt nicht, es so lange vor seinem Paar Schuhe sitzen zu lassen, bis es versucht, diese selbst anzuziehen.

Genau das wurde dort aber getan. Denn immerhin waren die Kinder nun alt genug und mussten doch selbständig werden. Uns wurde das sogar geraten: Ihn daheim so lange am Boden sitzen zu lassen, bis er seine Schuhe allein anzieht. Zum Glück gibt es Ratschläge, die einfach ignoriert in Luft verpuffen.

Herr Klein wird nun in drei Wochen 4 und zu 90% der Zeit wünscht er sich, dass wir ihm die Schuhe anziehen. Er lässt sich wie ein König am Abend die Hose und den Pulli aus- und den Schlafanzug anziehen und zudecken.
Ich kann nun jedes Mal darauf bestehen, dass er das selbst macht. Weil er doch schon groß ist. Weil er das doch langsam mal können muss. Weil er doch mal selbstständig werden muss.

Nunja, er kann das auch. Er will aber nicht. Und das ist der springende Punkt. Zu erkennen, warum ein Kind nicht will, wenn es nicht will und nicht tut. Anstatt zu bestehen und zu verharren und Druck auszuüben. Denn das ist es ja, was getan wird: Druck wird ausgeübt, obwohl wir alle wissen: Druck erzeugt Gegendruck. Das lehren uns unsere Kinder recht früh.

Gestern hatten wir ein Nachbarskind zu Besuch. R. ist gerade mal 3. Wir waren draußen und gingen dann zu uns in die Wohnung. Herr Klein zog sich schnell die Schuhe aus, um dann R. zu helfen. „Soll ich Dir helfen, ja? Komm, ich helf Dir!“ Und dann zog er ihr die Schuhe aus, danach selbst seine Jacke, seine Mütze. Als R. aufs WC musste, half er ihr die Hose auszuziehen.
Heute früh versuchte er lange und ausdauernd (nicht ohne zu schimpfen) seine Hose und seinen Pulli selbst anzuziehen. Sogar die Socken, da scheiterte er dann mangels Geduld am zweiten Fuß.

So überrascht er immer wieder und zeigt: Er kann. Wenn er will. Und für mich ist das alles, was ich wissen muss. Warum er nicht will? Weil Anziehen für Kinder nicht nur Notwendigkeit ist. Kinder sind ja so verschieden und manche holen sich die Nähe zu ihren Eltern durch Kuscheln, andere eben durch vehementes Einfordern von Hilfe bei den täglichen Pflegesituationen. Füttere mich. Zieh mir die Schuhe an. Putz mir die Zähne. All das kommt immer mal wieder vor, mal mehr mal weniger. Und natürlich obendrein abhängig vom Müdigkeitsgrad. Und ich erlaube das. Meistens. „Magst Du heut gefüttert werden? Ist Dir das grad so wichtig, ja?“ Natürlich gibt es Zeiten, wo ich selbst zu hungrig und ungeduldig bin. Das sage ich ihm dann auch. Aber ich zeige ihm dann: Weil ich das jetzt nicht will und nicht, weil Du selbst müssen musst. Das ist ein wesentlicher Unterschied.

Aber muss ich die Selbständigkeit nicht fördern?
Kinder wollen selbständig werden. Und sie tun das, wenn sie dazu bereit sind. Und vor allem: wenn alle Rahmenbedingungen dazu erfüllt sind. Wenn sie sich wohl fühlen, sicher und geborgen. Wir haben oft viel zu viel Angst, unsere Kinder zu ewigen kleinen unfähigen Individuen zu erziehen und verlangen ihnen dabei viel zu viel ab. Vertrauen und Zutrauen sind hier wie immer der Schlüssel zum Glück.
Meist genieße ich es einfach, meinem Kind so einfach einen Wunsch zu erfüllen. Wenn er – wie manchmal – sagt „Ich kann nicht, kannst Du helfen!“ dann sage ich „Ich weiß, dass Du das kannst. Aber ich helfe Dir gern.“ Das zeigt ihm, dass er nicht unfähig ist, aber auch nicht allein.

Macht uns das zu Dienern unserer Kinder?
Vielleicht. Aber die R., die gestern da war, die hat eine Schwester, die G. und die ist 9. G. ist viel unterwegs und hat mittlerweile wenig Interesse an ihren Eltern. „Oh man, Mama!“ sagt sie. Wenn ich das sehe und höre, dann bin ich gern der Diener für meine Kinder. Denn viel zu schnell sind sie groß und die kleinen Hände auf meiner Schulter, die sich da festhalten, wenn ich an den Schuhe zurre, sind dann nur noch eine blasse Erinnerung.

Dieser Beitrag hat 14 Kommentare

  1. Tine

    Manchmal möchte ich den Link zu deinem Blog an die prinz’schen Erzieherinnen weitergeben. Danke. ♥

  2. Ina

    Danke, danke, danke! Ein ganz wunderbarer Artikel!!!!

  3. Christiane

    Hallo… beim ersten Mal, als meine große Tochter mir sagte: ‚Mama du bist heute mein Diener, habe ich wohl auch etwas geschaut, aber ihr dann auch schnell gesagt, das ich ihr nur helfe und das auch gerne mache.‘ Hat sich auch erst sehr befremdlich angehört, aber ja die Nähe ist es die sie brauchen. Und selbst mit 5 geniesse ich es jeden Morgen das Kind anzuziehen und mir ihr Sachen auszusuchen.. nein das nicht und das natürlich auch nicht. Nicht immer hat man die Geduld und gerade bei zweien ist es dann aber wichtig, weil jeder seine Nähe bekommt und es dann im Endeffekt auch schneller geht.. also diese ewige: Ziehst du dich bitte an! oder Beeile Dich!
    Ich mag das manchmal garnicht hören, sondern sage eher: Wenn Du Hilfe brauchst, sagst Du Bescheid! und ziehe mich dann meist selber an..
    Ich denke das Problem ist mit allem was wir tun, wenn wir zu dogmatisch an dem festhalten und nicht auch zwischendurch auf unser Herz hören und dieses öffnen.
    Danke für die tollen Worte …
    –Christiane

  4. James Reeve

    Bravo! Lass ein Kind, Kind sein. Wir wollen alle manchmal geholfen werden aber trotzdem machen wir alle sehr viel selbständig. Oder?

  5. Guest

    Ich helfe meinem Kind auch gerne. Vor allem, weil ich keine 3 Stunden Zeit habe zu warten, bis er es endlich selbst macht. Aber ein bisschen anstubsen kann man die Kleinen schon mal. „Komm, hol doch schonmal deine Schuhe.“ Oder wir spielen ein Anziehspiel.
    Aber kann man das von den Erziehern verlangen? 30 Kinder anziehen? Da darf man doch auch mal ein bisschen Selbständigkeit verlangen.

    1. buntraum

      Aber genau das is ja der Punkt: Es wollen ja gar nicht 30 Kinder angezogen werden. Manche WOLLEN sich ja selbständig anziehen. Manche können noch nicht. Und manche wollen heute einfach nicht. Und da anstatt mit einem Kind in der Garderobe zu hocken, bis es endlich… (genau das haben sie mit Herrn Klein gemacht) da bin ich schneller, wenn ich helfe. Und natürlich kann ich sagen: „Klar helf ich Dir, kannst Du mir schon mal die Schuhe holen!“ Genauso kann ich sagen: „Ich helfe jetzt noch dem xy. Du kannst warten oder Du fängst schon mal an, Dich anzuziehen.“ Einladung zur Selbständigkeit ist immer wünschenswert. Es darf nur nicht in Druck ausarten. So meinte ich das.

      1. Susanne

        Außerdem müssen auch bei den Kindern, die nicht wollen/können, nicht unbedingt immer die Erzieher helfen. In unserer KiGa-Gruppe lassen sich die größeren Kinder gerne bitten, schon mal einem der Kleinen bei der Jacke zu helfen – und das macht ihnen viel Spaß und macht sie stolz. Dafür hab ich auch Verständnis, wenn es wirklich mal schnell gehen muss und die Erzieher dann auch versuchen, zu beschleunigen – wenn die Gruppe z.B. für eine Stunde in die Turnhalle kann, dann ist es für 19 Kinder blöd, wenn alles daran hängt, dass mein Filius keine Lust hat, sich umzuziehen. Lösung war, dass ich gebeten würde, ihn am Turntag von vorneherein in Turnhose zum KiGa zu schicken – und wenn ich es verpennt hatte, dann konnte er eben so lange nicht mitmachen, bis er sich umgezogen hatte. Manche Lösungen sind so einfach, man muss nur drauf kommen…

  6. Jessica Mairbichler

    Helfen ist eine schöne Geste. Wir sind die Vorbilder für die Kinder und wenn wir helfen, helfen sie auch.

  7. Mamagie

    Super auf den Punkt gebracht und genau ins Schwarze getroffen! Auch der beste Ansatz kann in die Hosen gehen, wenn man dogmatisch wird und keine Flexibilität zeigt. Vielen Dank für den Artikel!

    Liebe Grüße

    Karin

  8. camilla

    Hallo,
    es ist toll, dass Sie für Herrn Klein zuhause, in einer 1:1 Betreuung, die Zeit haben, ihn anzukleiden und ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen und dann auch noch erfüllen zu können. Dies scheint er in vollen Zügen zu nutzen, wie sie schreiben und es sei ihm absolut gegönnt.
    Wichtig bleibt es, wie Sie als Montessoripädagogin ja wissen, dass Herr Klein mit seinen Anforderungen an die Umwelt, nicht die Grenze der Anderen überschreitet. Bei ihnen zuhause scheint dies nicht der Fall zu sein, wie herrlich! Im Kinderhaus oder sonstiger sozialer Umgebung kann dies natürlich schnell geschehen, wenn Herr Klein sich die Bezugsperson noch mit einigen anderen Individuen teilt. Dann kann es vorkommen, dass Herr Klein selbsttätig werden muss, wenn er weiter an der Gemeinschaft teilhhaben möchte. Es liest sich für mich so, als stelle genau dass ein Problem für Herrn Klein dar. Dies finde ich höchst interessant, da meine Erfahrungen gezeigt haben, das gerade Kinder im Alter zwischen drei und vier Jahren die größtmögliche Selbständigkeit anstreben und dadurch eine Überbeanspruchung durch das Anziehen des eigenen Schuhwerks nicht zu befürchten ist.
    Deshalb finde ich es wichtig, zu erwähnen, dass diktatorisches Personal in Kindertageseinrichtungen nichts mit Montessori oder anderer reformpädagogischer Ausrichtung zu tun hat, sondern lediglich mit dem generellen Grundverständnis aller Beteiliggten.
    In diesem Sinne: Hilf mir es selbst zu tun!

    1. buntraum

      Vielen Dank für diese Sichtweise. Herr Klein war zu besagter Geschichte 2,5Jahre alt. Ich weiß, dass er sich heute sehr wohl selbständig anzieht. Im Kindergarten versteht sich. Daheim nicht. Aus besagten Gründen.

  9. Mimi

    Hallo, vielen Dank für den Artikel, der meiner Meinung nach wunderbar auf den Punkt gebracht ist. Man kann alles ins Extreme ziehen, ob es nun das „verhätscheln“ der Kleinen ist, oder der Gedanke „du musst es jetzt selber machen“. Der Leitsatz von Marie Montessori heisst eben „Hilf mir, es selber zu tun“ und nicht „zwinge mich dazu, etwas selber zu tun“. Wie Sie schreiben, WOLLEN Kinder ja selbstständig werden. Und dem sollte man sicherlich nicht im Wege stehen, das Sie ja auch nicht machen. Ich finde man sollte auch nicht vergessen, dass Maria Montessori in Kinderheimen geforscht hat und ihre Ansätze sich primär auch an diese richten. An Kinder, die nicht genug Liebe und Bestätigung erhalten, an Kinder, deren Selbstwertgefühl und das Gefühl der Selbstwirksamkeit nur allzu schnell unterdrückt oder vergessen werden. Die Situation der meisten Kinder aus einem „intakten“ familiären Hintergrund ist etwas anders.

  10. jana

    dem ist NULL-Komma-NIX – aber auch so gar NIX hinzuzufügen!!!! danke! was wir nicht immer wieder hören, dass unsere Kids unterfordert wären, weil sie einfach tag ein tag aus, einfach spielen dürfen (3 geschwister) und das in der freien natur und es tatsächlich vorkommt, dass sie sich langweilen – was wiederum ja kreativität fördert..nun ja (wie haben die das nur ganz früher geschafft die kids wo es noch nicht mal gesteuerte bespaßung in form von spielplätzen gab?!) – geschulte systeme haben halt auch ihre blickwinkel. dabei ins om zu kommen und einfach nur auch diese sicht sein zu lassen, fällt mittlerweile schon weniger schwer – hilft vlt. aber auch einfach nur unsere sicht zu reflektieren und da war es toll nach eben einer genau solchen heutigen situation diesen beitrag gelesen zu haben! DANKE!

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