Nicht mehr hier und doch immer da

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Heute Abend, aus dem Nichts heraus, stellte der große Le mir mal wieder eine Frage, die mir gelegentlich die die Schuhe auszieht. „Hast Du Deinen Bruder sehr gemocht?“ Es sind so Fragen, die einfach einfahren, sich einmal tief einbohren vom Kopf runter zum Herz, den Bauch pürieren und dann einen Klumpen Brei hinterlassen. „Ja.“ habe ich gesagt. Und leise geschluckt.

Von Zeit zu Zeit stellt er mir solche Fragen. „Was hast Du früher mit ihm gespielt?“ oder „Wie groß war er?“ Und egal wie schmerzhaft das auch manchmal ist, so lässt er meinen Bruder dadurch hier in unserer Familie weiterleben. Es ist ja nicht so, dass ich täglich um ihn trauere. Die Trauer hat ja ein ganz spezielles Eigenleben. Sie taucht meist dann auf, wenn man am wenigsten auf sie vorbereitet ist und das ist wohl auch ihre Absicht.

Es gibt aber auch stetige Trauertage. Das sind ganz klar Weihnachten, Geburtstage, Todestage. Aber auch die Geburtstage meiner Kinder zum Beispiel gehören dazu oder besondere Ereignisse wie einst die Geburten, erste Schritte der Kinder, ihre Einschulungen. Auch mein Geburtstag. Da ist dann immer diese eine Person nicht da, der ich doch so gern auch von all dem erzählen würde, die ich gern anrufen würde, die diese Lücke grell anstrahlt. Da ist die Trauer besonders laut.

Aber dadurch, dass der Le immer wieder nach ihm fragt, ist mein Bruder doch im Alltag dabei. Er holt ihn auf seine kindlich neugierige Art hier herein, als wäre er ein ganz normaler Teil von uns. Und dafür bin ich ihm sehr dankbar.

Es zeigt mir auch, wie wichtig es ist, mit Kindern darüber offen zu sprechen. Als ich Kind war, war dieses Thema absolutes Tabu. Über den Tod, die Toten, wurde nicht geredet. Das wurde sofort abgeblockt und hat mich erst recht verunsichert. Ich weiß noch, wie schockiert ich war, als ich meine Oma weinen sehen habe wegen meines gerade verstorben Opas. Diese Emotionen waren mir fremd. Und sie wurden auch nie besprochen. Als ich dann selbst mit der Trauer konfrontiert war, hatte ich keine Ahnung, wie ich mit ihr umgehen sollte. Das habe ich im Laufe der letzten Jahre erst richtig für mich gelernt.

Gleichzeitig finde ich es sehr spannend, welche Vorstellung der Le da wohl in seinem Kopf trägt von einer Person, die er nie gekannt hat. Aber von der er merkt, dass sie ein wesentlicher Teil von mir und damit auch von ihm ist. Denn letztendlich sind sie beide verwandt und manchmal meine ich gewisse Ähnlichkeiten zu erkennen. Und dann frage ich mich, wie ihre Beziehung wohl aussehen würde, wenn er noch da wäre. Aber das ist ein Pfad, den ich auch schnell wieder verlasse. Weil er sowieso nichts als Schmerz bringt.

Vielleicht war es die eingetroffene Weihnachtsstimmung hier heute, die ihn zu dieser Frage veranlasst hat. Weihnachten ist seitdem ein Fest, das ich gern auslassen würde, obwohl ich immer gehofft hatte, dass es die Kinder für mich verändern würden, leichter machen. Stattdessen bringen sie mich dadurch in einen ganz eigenartigen emotionalen Zwiespalt zwischen „Weihnachten mit ihnen zauberhaft genießen wollen“ und „einfach nicht können und davonlaufen wollen“.
Vielleicht war es aber auch einfach nur spontan kindliche Neugier. Wie auch immer, so freue ich mich, dass er nie zögert, mir solche Fragen zu stellen und die Tür offen hält für die Person, die nicht mehr hier und doch immer da ist.

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