Es ist einer dieser Tage, an denen ich nur noch komplett rebellieren will. Weil mir alles so krank erscheint hier.
Ich quäle mich um 6Uhr aus dem Bett. Nicht, damit ich pünktlich in der Arbeit bin. Nein, damit meine Kinder pünktlich in der Schule sind. Ich wecke also drei Kinder, hole sie aus ihrem friedlichen, erholsamen Schlaf, damit sie aufstehen und wieder hinaus treten in dieses System. Dieses kranke System Bildung.
Der Sohn war gerade krank. Nein, kein Covid, etwas ganz anderes, was es ja auch noch gibt. Details erspare ich allen. Es war wirklich nicht schön, er hat gelitten und ich mit ihm. Sehr. Mittendrin, irgendwann zwischen 40Grad und Fiebersaft, sagte er: „Wir müssen den Stoff immer innerhalb einer Woche nachholen.“ Ich hätte weinen können. Gibt es nichts anderes, woran der Bub denkt, wenn er krank auf dem Sofa liegt, nachts weinend aufwacht, weil er einfach nicht mehr kann und will? Ist das wirklich die Normalität???
Ich möchte aufstehen und der Lehrerin eine Email schicken und sagen: Er wird den Stoff nicht innerhalb einer Woche nachholen. Weil er jetzt gesund werden muss und dann nicht als Strafe fürs Kranksein doppelt ackern soll. Aber ich lösche alles, was ich schreibe und lasse es, weil ich weiß, dass es sie nicht interessiert.
Wir fürchten uns alle vor Long Covid, dieser undefinierbaren Nachwirkung von Covid. Wir haben Angst davor lange außer Atem und unfit zu sein. Haben Angst vor neurologischen Nachwirkungen, die uns noch gar nicht in ihrem vollen Ausmaß bewusst sind. Wir sorgen uns um unsere Belastbarkeit, um Konzentrationsstörungen, Schlaf- und Angststörungen. Um ein paar Symptome von Long Covid zu nennen. Und ich möchte hier bitte KEINE davon verleugnen oder sie als nichtig hinstellen, ich denke, dass das wirklich ernstzunehmen ist).
Und während wir also alle Maßnahme ergreifen und uns versuchen zu schützen so gut es geht, laufen wir weiter in diesem System mit, in dem wir nach und nach alle an Long Covid erkranken. Auch wenn das nicht Long Covid heißt, nennen wir es Long Bildung. Denn wenn wir uns unsere Kinder anschauen, dann leiden die meisten an solchen Symptomen ohne davor an Covid erkrankt zu sein. Dann sitzt das schon tief in uns drin, hat sich in unser hineingefressen über all die Jahre. Warum? Weil uns dieses System so krank macht. Und weil sich jetzt, wo wir die Chance hätten, etwas zu verändern, nichts ändert. Im Gegenteil. Wir müssen ja aufholen, den versäumten Stoff der Lockdowns. Es dreht sich alles um Tests und Schularbeiten. Die müssen wir nämlich schnell durchpeitschen, bevor vielleicht alle in Quarantäne sind. Und was tun wir denn ohne Schularbeiten, woher bekommen wir dann unsere Noten, oh die wichtigen Noten?
Und wir machen alle mit. Und üben weiter Druck aus. Die Lehrer:innen, weil sie von „oben“ keine anderen Möglichkeiten aufgezeigt bekommen. Die Eltern, weil sie doch das Beste für ihre Kinder wollen (???). Die Kinder, weil sie die schwächsten Glieder in dieser Kette sind. Weil sie keine wirkliche Stimme haben. Und so laufen wir weiter und weiter.
Ende der Woche gibt es die sogenannte Schulnachricht in Wien. Bei uns hieß das damals Halbjahreszeugnis. Ich weiß gar nicht genau, was der Sohn da drauf haben wird. Viel Gutes wird es nicht sein, soviel ist sicher. Immerhin gab es einige Zettel zu unterschreiben. Frühe Warnungen. Warnungen, die mir nur eines sagen: Die Noten stimmen nicht. Denn ehrlich: Mit dem Sohn stimmt alles. Er weiß viel, er ist interessiert. Aber das interessiert in der Schule niemanden. Da geht es nur um das, was am Ende auf einem Zettel steht. Da geht es nicht darum, was ein Kind ausmacht, was ein Kind richtig gut kann, wer ein Kind wirklich ist.
Dieser Druck macht uns alle langfristig genauso krank. Dieses Nichtsehen unserer wirklichen Persönlichkeit, unserer Menschlichkeit, zermürbt uns.
Ich kann das Bildungssystem nicht ändern. Ich bin ein kleines Sandkorn in diesem Getriebe und ich versuche alles zu geben, damit meine Kinder nicht verloren gehen da drin. Ohne es für sie dabei schwer zu machen, denn ich beginne anzulaufen gegen diese Windmühlen. Es ist eine Gratwanderung. Mein Traum ist ein anderer. Aber der ist groß, überdimensional. Und ich bin müde. Von dieser langen Coronareise müde. Davon, in einem System zu laufen, das den Menschen nicht wahrnimmt. Aber ich werde nicht aufhören zu kämpfen. Für meine Kinder und meine Träume. Und Ihr solltet das auch alle tun.
Es ist ein täglicher Kampf gegen Windmühlen und sehr oft denke ich „oh Gott was mach ich da“ „es ist nicht richtig“. Ich hätte es schön gefunden, wenn die Kinder die Zeit bekommen die sie brauchen gemeinsam im Klassenverband und nicht das man dann die Klasse wechseln muss. Es ist und bleibt alles verrückt. Wir können nur da sein, zuhören, Mut machen und das Selbstvertrauen stärken.
Wie sehr mir Deine Gedanken aus der Seele sprechen!!! Danke, dass du in Worte fassen kannst, was so viele von uns bewegt und neben dem ganzen Corona Wahnsinn gerade so fertig macht. Da stimmt doch einiges nicht am System… erst seit ich ein Kind habe, stelle ich so vieles in Frage, bei dem ich selber als Kind einfach „mitgelaufen“ bin, weil man das eben so macht.
Ja, man sieht das oft erst mit dem eigenen Kind. Und jetzt ist man so hilflos, weil man so wenig tun kann, wenn man in dem System mal drin ist. Da hilft nur eins: die eigenen Kinder so gut es geht stärken. Das ist zumindest ein Aspekt, der uns ja damals oft sehr gefehlt hat und den wir aktiv besser machen können.
Liebe Nadine,
vielen Dank für deine klaren, leider wahren Worte! Meine Kinder haben das große Glück die Schule am See zu besuchen (der Standard hat darüber berichtet). Und auch wenn manche User so eine Art von Schule schlecht reden – für unsere Kinder und auch für uns als Eltern ist diese Schule ein ganz großer Segen! Meine Kinder (11 und 9) hatten noch nie Noten und wissen trotzdem was sie können und wo es noch Übung braucht. Es gibt regelmäßige Gespräche mit den Lehrpersonen, die sehr individuell auf die Kinder und ihre momentanen Lern-Leistungsstand eingehen. Tief berührt sind wir Eltern auch jeweils vom ausführlichen schriftlichen Bericht am Ende des Jahres, in dem die üblichen Mathe,Deutsch, Englisch, Naturwissenschaftlichen Bereiche und wie die Kinder da gerade unterwegs sind genauestens beschrieben werden aber auch die persönlichen Stärken und Einzigartigkeiten zur Geltung kommen. Wenn ich von deinem Sohn höre und wie es ihm und leider sehr vielen Kindern geht, dann finde ich das zum Haare raufen! Jetzt wissen wir so viel darüber, wie lernen und sich ganzheitlich entfalten geht und machen immer noch so viele Kinder mit diesem kranken System kaputt! Aber – wie du sagst – nicht aufgeben – weiter kämpfen! Auf jeden Fall!!
Oh liebe Iris, danke für Deine Erzählungen. Das klingt wunderschön und genau so sollte Schule doch sein, oder? Ich bin zumindest froh, dass es immer wieder solche Schulen gibt und hoffentlich werden es mehr und mehr. Alles Liebe Dir! Nadine