Immer wieder kommt es vor, dass Eltern im Spielraum berichten ihre Kinder wären daheim ganz anders. Die, die daheim aktiv sind, spielen und viel unterwegs, kleben im Spielraum zuweilen auf dem Schoß der Eltern. Die, die sich daheim schwer allein beschäftigen können, versinken hier plötzlich in tiefem Spiel. Was ist der Grund dafür?
Die Umgebung und die Atmosphäre sind im Spielraum besonders. Da es keine übliche Spielgruppe ist wo Kinder angeleitet und unterhalten werden, sondern wo sie von sich aus den Raum, die Materialien erkunden, frei spielen und tun, was ihnen gefällt ist es hin und wieder viel ruhiger. Keine Kreisaktivitäten, keine Lieder und besonders: Die Eltern sind ebenfalls sehr ruhig. Denn die sind angehalten sich voll und ganz im Hier und Jetzt auf ihr Kind zu fokussieren. Zu beobachten: Was macht mein Kind? Wo steht es gerade in seiner Entwicklung? Was begeistert es? Womit beschäftigt es sich gern? Wer ist dieser Mensch? Und so sind sie nicht nur räumlich anwesend, sondern voll und ganz da. Präsent. Aufmerksam. Und das macht es für die Kinder besonders besonders.
„Das kann ich doch daheim auch haben.“ könnte man sagen. Aber daheim ist alles anders. Da grinst uns der Haushalt aus dem Winkel an (wenn er uns nicht höhnisch auslacht). Da denken wir an all die Dinge, die wir doch jetzt tun könnten, während unser Kinder spielt und stehlen uns heimlich davon. Da warten wir auf „den Moment Ruhe“, damit wir kurz mal… Und unsere Kinder spüren das. Sie spüren ob wir neben ihnen sitzen, weil wir jetzt einfach dort nur sitzen und nichts tun wollen (wie im Spielraum) oder ob wir dort sitzen, um im richtigen Moment doch wieder aufzuspringen oder heimlich der Wäsche zu folgen. Da läutet das Telefon, da piepsen Nachrichten, da will das Essen gekocht werden.
Daheim ist kein Spielraum. Aber daheim kann ein heimischer abgewandelter Spielraum sein.
Letzte Woche war Miniklein krank. Da ist er nicht nur klein, sondern auch furchtbar jammerig und anhänglich. So ist das eben mit Kindern. Und da kann man nicht viel tun als alles stehen und liegen zu lassen und sich zu kümmern. Nur gibt es ja bei kranken Kindern nicht viel zu tun. Da muss man da sein, trösten, Nasen putzen, kuscheln und Geduld haben. Und so habe ich mich einfach in Ruhe einmal zu ihm gesetzt in die Spielecke im Wohnzimmer und beschlossen alles andere zu ignorieren. Und kurz darauf hat er getan, was er den ganzen Tag und den Tag davor und davor nicht getan hat: Er hat gespielt. Er war zufrieden. Er war selig. Und ich war es auch. Ich habe ihm begeistert zugeschaut, mich gewundert, was er alles tut und macht und hatte meine größte Freude dabei ihn freudig zu sehen. In dem Moment habe ich mir selbst eine Stunde Spielraum verordnet. Einen zweiten Grund hat das schon auch – immerhin ist er nie in den Genuss eines Spielraumes gekommen mit mir. In den Genuss dieser wunderbaren wertvollen Zeit zu zweit voller Hier und Jetzt und diesem Moment.
So nehme ich mir nun jeden Tag bewusst Zeit für ihn. Eine Stunde geht sich leider nicht immer aus, da sind ja noch die anderen Kinder. Aber ich lege das Handy beiseite, ich ignoriere die Wäsche oder das Strickzeug. Ich denke nicht an all das, was ich tun könnte. Das ist nicht leicht, aber wenn man mal ein Kind im Spiel beobachtet und so ganz bei ihm ist, dann kann man auch sehr schnell den Rest der Welt vergessen. Und es ist ja nicht so, dass er in dieser Zeit nur spielt. Er ist auch viel bei mir, er kostet die Zeit voll aus, er lädt mich zum Spielen ein oder er kuschelt mit mir. Er malt, steht auf, gibt mir ein Bussi und geht wieder. Das sind unbezahlbare Momente.
Fred Donaldson kritisiert in seiner Arbeit immer wieder, dass Eltern nicht mit ihren Kindern spielen, sich nicht mehr mitreißen lassen. Dass Spielen immer nur den Kindern vorbehalten ist. Ich möchte ein Stück weiter gehen. Ich glaube, dass wir uns generell zu wenig auf unsere Kinder einlassen. Wir wünschen uns, dass sie sich selbst beschäftigen, damit wir weiter tun können, was wir zu tun haben. Wir wollen, dass sie alles Notwendige Lernen beim Spielen. Wir sind so fremdfokussiert im Internet, in unseren technischen Apparaten, dass wir den Fokus auf diese Wesen, die uns so viel zeigen und auch ohne Worte so viel sagen verlieren. Stattdessen lassen wir uns von der Industrie sagen, womit unsere Kinder zu spielen haben.
Ich verordne deshalb: Eine Stunde Spielraum am Tag. Eine Stunde Zeit. Eine Stunde handylos. Eine Stunde zeitlos. Eine Stunde beim Kind. Ob beobachtend oder beklettert. Ob vereinnahmt oder ins Spiel mitgerissen. Es ist diese volle präsente Aufmerksamkeit, die wir ihnen nicht schenken und uns dann wundern, warum sie rund um die Uhr unzufrieden und anhänglich sind. Dabei ist es dieser eine Moment, diese (verhältnismässig) kurze zeit voller Präsenz, die sie nährt und auftanken lässt.
Schau was passiert, schau was Du erkennst und entdeckst. Über Dein Kind. Über Dich. Über Euch.
Viel Spaß !
P.S.: Es lohnt sich dennoch einen Spielraum nach Pikler zu besuchen. Denn daheim ist eben kein wirklicher Spielraum. Die Umgebung ist eine andere. Die Beobachtungen sind womöglich andere. Die Gespräche, die Rückmeldungen und der Austausch mit der Leiterin sind unersetzbar daheim. Vor allem, wenn im heimischen „Spielraum“ Fragen auftauchen, ist es wertvoll einen Anlaufpunkt zu haben.
Ich biete am 5.12.2017 wieder zwei Schnupperstunden meines Spielraumes an. Ich freue mich, wenn Du kommst oder das an Eltern weiterleitest, für die das interessant wäre.
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