Gestern war ich beim Zahnarzt. Wer mich kennt, weiß, dass ich schon Tage vorher erhöhten Blutdruck hatte allein beim Gedanken daran. Selbst die Geburten haben bei mir nicht solche Panik und Angst ausgelöst wie ein Zahnarztbesuch. Aber es musste sein und mir war klar, dass es etwas zu tun gab, sonst wäre ich ja auch nicht „freiwillig“ hingegangen.
Und so begann Frau Doktor am oberen Backenzahn herumzuwerkeln, erst ohne Betäubung, denn der ist ja sowieso schon tot. Als ich dann doch was spürte – es sei dahingestellt ob echt, oder rein aus Panik – gab sie mir die erlösende Spritze und ich wartete auf den erhofften Effekt. Während sich mein Mund also immer mehr meiner Kontrolle entzog, kehrte Frau Doktor zurück und begann weiter an dem toten Zahn herumzuwerkeln. Dazu hatte ich in meinem Mund ein Kabel hängen, einen Sauger und die Finger der Frau Doktor. Und während sie so werkelte kamen immer wieder Assistentinnen herein und besprachen mit ihr die Vorgehensweise bei Patient X. Und wenn die wieder draußen waren, so besprach sie mit der anwesenden Assistentin den Fall Patient X. Ach ja und nicht zu vergessen das Telefonat bezüglich Patientin Y. Ganz wichtig. Und manchmal wusste ich nicht, ob sie eigentlich noch mit mir beschäftigt war, oder andere Dinge tat. Weil ich die Augen ja auch ganz entspannt zusammengekniffen hatte.
Ich fühlte mich deplatziert und ausgeliefert. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir geschah und wie lange das noch dauern würde. Ich fühlte mich als Belastung, obwohl das ja ihr Job war und sie auf ihrer Homepage damit wirbt jedem Patienten seine individuelle Behandlung zu geben. Am Ende war ich äußert überrascht, als sie ihre Hände von mir nahm, sämtliche Kabel aus meinem Mund entfernte und mir die Hand zur Verabschiedung gab. Weil ich eben noch halb kopfüber auf ihrem Sessel hing und nicht ahnte, dass ich (fürs erste) fertig war.
Als ich dann so taub und benommen nach Hause ging, kam mir der Gedanke, dass es unseren Kindern wohl nicht selten genau so geht.. Wenn wir sie wickeln, und uns dabei mit anderen unterhalten. Wenn wir stillen und dabei nur ins Handy schauen, die Brust nur hier und da zurechtrücken, ohne das Baby anzusehen. Wenn wir dem Baby Essen geben und uns dann wieder unseren Gesprächen oder dem Kochen zuwenden, wenn wir unsere Kinder anziehen und dabei mit dem Partner oder der Partnerin die Einkaufsliste besprechen, wenn wir mit ihnen spielen und dabei Gespräche führen, wenn… wenn wir viel zu oft da, aber nicht bei ihnen sind.
Es geht so schnell, der Alltag hat uns so oft so fest im Griff und wir versuchen alles gleichzeitig unterzubringen. Wir wickeln automatisiert ein Kind, rufen dem anderen etwas zu, sind in Gedanken schon zwei Stunden weiter. Vieles ist normal und lässt sich nicht immer ganz exklusiv abwickeln. Das Leben in einer Familie ist auch zuweilen chaotisch. Aber wiederum gibt es so viele Momente und Situationen, die wir viel liebevoller und achtsamer erleben können. Wenn wir uns einfach unseren Kindern für einen Moment ganz zuwenden und ihnen eine Minute lang die volle Aufmerksamkeit schenken, als zehn Minuten nur die halbe.
Mir fällt so immer wieder auf, was dann plötzlich möglich ist:
Dann kooperieren sie sehr zufrieden und freudvoll,
dann fühlen sie sich gesehen und wahrgenommen,
dann reden sie und erzählen von ihrem Tag, ganz von allein,
dann umarmen sie mich, ich bekomme Bussis und Liebeserklärungen,
dann lachen wir gemeinsam,
dann sehe ich, was sie alles schon können oder versuchen,
dann sind wir in Kontakt und haben für einen Moment das Gefühl, uns wieder nahe zu sein. Und können uns gestärkt und aufgetankt wieder unserem Tun widmen.
Diese Dinge bewusster zu erleben und zu begehen ist enorm wertvoll für die Beziehung miteinander. Dann empfinden wir alltägliche Dinge nicht als lästig und anstrengend und unsere Kinder sich nicht als belastend. Denn das tun sie, wenn wir diese gemeinsamen Momente nebenher und automatisiert mitmachen und sie quasi abfertigen. So wie ich gestern beim Zahnarzt abgefertigt wurde.
Ein einfaches „Ich bin gleich wieder bei Ihnen.“ hätte mir gereicht, wenn sie es dann auch gewesen wäre. So wie unsere Kinder mit einem „Ich kläre das kurz, dann bin ich wieder bei Dir.“ besser umgehen können, als mit einer Mutter, die ihnen die Schuhe anziehen will, während sie mit einer Freundin telefoniert.
Es braucht nicht immer viel. Es sind die kleinen versteckten Möglichkeiten im Alltag, die wir nicht nutzen. Viel zu selten nutzen.
Liebe Nadine, du hast einen Vergleich gefunden, der besser nicht passen könnte!
Diese Gefühl des Ausgeliefert sein kenne ich leider von Zahnarztbesuchen auch und ich kenne auch Kinder, die beim Wickeln ähnlich angespannt sind, wie du und ich in der Zahnarztpraxis, wenn Erzieherinnen die Windeln wechseln.
Und das könnten wir durch mehr Achtsamkeit angenehmer gestalten.
Danke für den tollen Text!
LG,Britta
Danke, liebe Britta. Ich finde diese Vorstellung wirklich erschreckend, aber kann mir gut vorstellen, dass es vielen Kindern gerade beim Wickeln so geht. Und das wo das ja so eine intime und sensible Situation ist. Da braucht es wirklich viel mehr Hinschauen.
Liebe Nadine, ein toller Text und das Gefühl Deines Ausgeliefertseins (leider!) sowas von nachvollziehbar! Hast Du eigentlich der Zahnärztin mitgeteilt, wie es Dir ging?
Liebe Eva,
nein, das habe ich nicht. Ich kann ja im Nachhinein immer nicht viel sagen weil ich so taub und fertig bin…
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Es tut mir leid, dass du so einen unschönen Zahnarztbesuch hattest. Hast du denn inzwischen einen anderen Zahnarzt gefunden? Ich versuche seit Monaten einen einfühlsamen Zahnarzt zu finden, der meine inzwischen 2,5 Jährige behandelt – noch bin ich nicht fündig geworden.
Ich danke dir für deinen augenöffnenden Vergleich zu den Kindern – du hast so recht. Und die Erinnerung daran ist immer gut, vergisst man das im Alltag doch immer wieder.
Ich bin von jademond hier zu dir gekommen und lese mich gerade etwas durch deinen Blog, es ist mir ein Genuss.
Liebe Grüße
Sternie