Frau Klein verbringt die meiste Zeit des Tages auf einer Decke am Boden in einem abgetrennten Spielbereich, der sie vor ihrem wilden Bruder schützt. Nach dem Stillen oder Wickeln lege ich sie dort hin und bleibe noch einen Moment bei ihr. Bis ich sicher bin, dass sie zufrieden ist. Oft lachen wir uns dort noch eine Weile an, ich erzähle ihr, was ich jetzt vor habe und irgendwann wandert ihr Blick ab. Meist in Richtung ihrer Hände. Und verharrt dort.
Ich liebe diesen Moment. Kinder sind noch so frei und unbefangen. Wir glauben oft, dass Babies dringend unsere Nähe wollen und nicht genug davon bekommen können. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sie sehr wohl eine „Sättigung“ kennen und danach zufrieden ins Spiel verfallen können. So wie sich eben Frau Klein’s Blick irgendwann meinem entzieht, sie ihre Hand in die Luft hält und langsam öffnet und schließt und dieses Vorgehen konzentriert beobachtet. Das ist ihre Art mir mitzuteilen: „Mama, Du kannst gehen.“ Und ich weiß, dass ich sie nun eine Weile „lassen“ kann.
Leider wird dieses „Lassen“ so oft als DAS Prinzip der Piklerpädagogik verstanden. Kinder werden allein und sich selbst überlassen. So wie die Waisenkinder im Pflegeheim, in dem Emmi Pikler ihre meisten Beobachtungen machte. Aber das ist ein Missverständnis (auch im Pflegeheim wurden die Kinder nicht „allein“ gelassen. Im Gegenteil, aber das würde hier zu sehr abschweifen).
Das Lassen wird verstanden als eine Fähigkeit. Die Fähigkeit, dass auch kleine Babies spielen, sich beschäftigen und erforschen können und wollen. Und dazu nichts weiter brauchen als ihre Hände. Füße. Oder einen Staubflusen in der Luft. Und als eine Fähigkeit des Erwachsenen genau das dem Kind zuzutrauen. Und Bedingungen zu schaffen, die das ermöglichen.
Dazu gehört eben die oben genannte „Sättigung“ – sprich das Erfüllen aller Grundbedürfnisse des Kindes. Hunger, nasse Windeln, kalte Füße oder zu viel Lärm und Aktivitäten im Umfeld können das Spiel des Säuglings oder Kleinkindes stören. Eine ruhige Umgebung und ein Erwachsener, der beobachtend anwesend ist, sind also über das Füttern und Wickeln hinaus eine wichtige Grundvoraussetzung für eben dieses Spiel.
Oft sind wir in unserem Leben gestresst, stehen unter Strom und rasen am Wesentlichen vorbei. Ein Kind kann die Möglichkeit sein wieder einen Schritt zurückzugehen. Einen Gang zurückzuschalten und zu etwas Ruhe zu gelangen. Ruhe, die nicht nur uns gut tut, sondern auch unserem Kind. Es gibt uns die Möglichkeit zu überdenken, was wirklich wichtig ist, was wir wirklich brauchen und tun müssen und wo wir uns zurücknehmen können.
Mit Frau Klein bin ich vormittags allein. Da wir meist den Nachmittag damit verbringen Herrn Klein aus dem Kindergarten abzuholen und dann zu dritt sind, gönne ich uns den Vormittag in Ruhe. Ich haushalte, wenn sie spielt und lese, stricke oder schreibe, wenn sie schläft. Dazwischen bin ich ausgiebig mit ihr am Wickeltisch beschäftigt oder stille. Oder beobachte sie in ihrem Tun. Und der Ausdauer darin.
Es ist ein spannender Augenblick, wenn der Säugling seine Hand entdeckt und sich später in ihre Beobachtung vertieft. Anfangs sieht er sie zufällig und verliert sie noch leicht aus den Augen. Bald kann er sie schon für längere Zeit im Blick behalten und folgt mit dem Kopf und Augen ihrer Bewegung. Nach und nach verbindet sich das Erlebnis der Bewegung mit der Erfahrung des Schauens. Allmählich lernt er, die Bewegungen seiner Arme, Hände und Finger unter Kontrolle der Augen zu koordinieren. (aus „Von den Anfängen des freien Spiels“, Éva Kálló)
Deshalb werde ich nun wieder gehen und Frau Klein bei der Entdeckung ihrer einzelnen Finger zusehen. Entschuldigt mich.
ohh – so schön diese Phase…. Und so schön, dass du dir bewusst die Zeit nimmst um sie zu genießen. In Kürze wird sie laufen und dann fragt man sich – wie die Zeit nur so schnell vergehen konnte. „seufz“ – wenn ich das sehe….. aber mit 3 Prinzessinnen bin ich ohnehin ziemlich beschäftigt ;)