Wacklige Zeiten

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„Viele Kinder, die kurz vorm Zahnwechsel stehen, malen auffälligerweise imm wiederReihen von gleichartigen Dingen, die wie Zähne nebeneinander stehen.“ (aus: Wackeln die Zähne, wackelt die Seele)

Seit einem Jahr wackelten Herrn Kleins Zähne bereits. Abgesehen davon, dass ich überrascht war, weil es so früh los ging, machte ich mir nicht besonders viele Gedanken darüber, was das bedeuten könnte. Doch dann kam mir in dem Zusammenhang immer wieder ein Buchtitel unter: „Wackeln die Zähne, wackelt die Seele“. Und ich spürte, dass da vielleicht ein ganz neues Feld aufgehen könnte.

Also kaufte ich das Buch und begann mich in die Thematik des Zahnwechsels bei Kindern einzulesen. Und entdeckte wirklich eine Art neue Welt. Ich bin nicht sonderlich bewandert auf dem Gebiet der Anthroposophie. In vieles lese ich mich erst noch ein, einiges entdecke ich so unterwegs wie eben das Thema Zähne und manches spricht mich so gar nicht an. Und so war es erst einmal ungewohnt, das Buch zu lesen. Weil darin von Dingen die Rede ist, die mir fremd sind. Unbekannt. Eigenartig unbekannt. Aber das macht eigentlich nichts.

Denn das Buch hat mir auf ganz andere Weise die Augen geöffnet.

„Von unsichtbarer Kraft getrieben,
Drängt zwischen Eck- und Schneidezahn
Ein neuer sich mit Macht hervor
Und bricht sich stark, doch lautlos, Bahn.

Zu enge fand er Tür und Tor;
Schräg steckt er noch im Unterkiefer.
Doch zielbewusst wird er gedreht:
Er stemmt und zwängt und bohrt und drückt;
Die andern weichen bis es glückt
Und er in Reih und Ordnung steht.
So schaust Du wie des Wachstums Kraft
Den Schlussstein fügt zum Menschenleibe
Und sich die zweiten Zähne schafft.

Nun weitet sich das schmale Kinn.
Was von den Eltern nur ererbt,
Ist jetzt verbraucht und ausgehöhlt,
Entwurzelt fällt der Rest dahin.
Des Kindes Wesen hat sich dann
Den eignen Körper aufgebaut;
Und aus gereiften Augen schaut
Ein neu Gesicht die Eltern an.“

(Markus Adolf Schaffner)

Wir verbinden mit dem Zahnwechsel oft eine gewisse Aufregung. Die Kinder werden groß. Das Thema Schule steht meist zeitgleich an und vieles ist im Wandel. Doch für das Kind bedeutet das nicht immer nur große Aufregung und Begeisterung. Die kommt meist, wenn der erste Zahn tatsächlich fällt. Doch davor und danach ist so viel in Bewegung, dass es auch beängstigend sein kann. Unangenehm. Neu. Ungewohnt. Unrund.

Wir erinnern uns vielleicht noch an ein paar Wackelzähne. Die nerven ein bissl. In langweiligen Schulstunden hingegen sind sie eine nette Beschäftigung. Wir können nicht alles gut essen, einiges nur auf der anderen Seite. Es tut ein bissl weh, es drückt hier und da. Ist der Zahn endlich raus, ist da eine Lücke. Eine Unbekannte. Ungewohnte. Es dauert, bis der Neue da ist. Und wer sich den Größenunterschied von Milchzahn und zweitem Zahn anschaut, der bekommt eine Vorstellung davon, was der Kiefer und die Gesichtsknochen in der Zeit an Wachstum hinlegen. Im Buch wird von Gestaltwandel gesprochen und ich finde das sehr passend. Unser Kopf ist im Umbau. Unser Körper ist im Wandel.

Wie kann all das unsere Kinder nur begeistern und freudig aufregen? Ist es nicht klar, dass sie da selbst unrund werden? Etwas spüren, was ungreifbar und unerklärlich ist. Dass sich etwas tut, was sie nicht in Worte fassen können, weil sie es gar nicht so deutlich spüren. Ich habe da auch nie drüber nachgedacht. Doch jetzt, nachdem ich das Buch gelesen habe, scheint es mir logisch und eigentlich anders undenkbar.

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Der Zahnwechsel ist eine aufregende Zeit. Aber wir sollten das Auge aufs Kind über die eigene Begeisterung stellen. Verstehen, dass es hier wieder eine Zeit erlebt, die ihm so unerklärlich und ungreifbar ist wie so viele andere vorher schon. Wir haben die Babyzeit geschafft und die Autonomiephase. Die motorischen Entwicklungsschritte, die Sprachentwicklung. Alle großen Meilensteine scheinen geschafft. Wir freuen uns über weniger stürmische Zeiten. Und wundern uns vielleicht, was denn „nun schon wieder los ist.“

Es hilft also zu verstehen, dass der Zahnwechsel nicht nur eine rein körperliche Veränderung ist. Sondern dass diese viele innere Veränderungen und Gemütsregungen mit sich bringt. Und wir das Ganze gemeinsam viel besser durchschiffen können, wenn wir uns dessen – wie so oft und in so vielem – bewusst sind. Und dass er sich über Jahre hinweg zieht. Die natürlich nicht alle so verlaufen. Auch hier ist jedes Kind anders, erlebt den Zahnwechsel anders und äußert die Verwandlungen innerlich und äußerlich anders. Das Buch gibt hier gute Ansätze zum Verstehen und vor allem auch zur Begleitung während dieser Zeit. Nach all den Baby- und Erziehungsratgebern finde ich es einen wahren Schatz für Eltern älterer Kinder.

Herr Klein ist seit dem Ausfall der ersten Zähne vor wenigen Wochen erstaunlich ruhiger. Er wirkt älter, verständiger und für uns greifbarer. Als wäre das, was ihn so zum Wackeln gebracht hat, nun vorerst draußen aus seinem Körper. Bis die nächsten Gehen und Kommen…

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Wie habt Ihr den Zahnwechsel Eurer Kinder erlebt? 

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Meise mit Herz

    Wir sind ja auch mittendrin. Lütte weint sehr viel mehr, ist zur Zeit sehr viel mehr laut. Es ist eine nervenaufreibende, aber spannnende Zeit der Veränderung.

  2. Syd

    Hallo,

    ich verfolge seit kurzem diesen Blog und bin dankbar für so viele schöne neue Gedanken und vorallem interessante Themen worüber wir uns (noch) keine Gedanken machen.

    Wir haben noch ein wenig Zeit bis die ersten Zähne wackeln, aber vermutlich ist unser Weg bis dahin voll mit anderen wackligen Erlebnissen :-)

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