Traurige Erkenntnisse

Heute werden die Leichen des Flugzeugabsturzes aus der Ukraine in die Niederlande überführt. Dort wartet eine Zeremonie inklusive Trompeter auf sie. 
Als mein Bruder starb war ich 14. Er verunglückte auf dem Heimweg von der Bundeswehr. Somit galt sein Tod als eine Art „Arbeitsunfall“ und wurde von der Bundeswehr finanziert und mitgestaltet. Auf dem Sarg lagen eine Deutschlandfahne und ein Stahlhelm. Am Grab spielten drei Trompeter die traurigste aller Musiken.

Ich war 14. 14! Ich hatte Angst vor diesem Begräbnis. Angst davor, mich falsch zu verhalten, weil ich nicht wusste, wie man sich auf einem Begräbnis verhält. Ich wusste nicht, was ich mit der einzelnen Blume anfangen sollte, die auf meinem Stuhl lag. Und ich wusste nicht, was man nun richtig mit der Erde in der Schale neben dem Grab macht. Was ich dort machte, schien mir unbeholfen. Hunderte Augen schienen mich zu beobachten. Und ich war allein. Meine Mutter wurde gestützt von ihrem Lebensgefährten. Mein Vater ging mit seiner Frau diesen traurigen Zug entlang. Ich habe keine Ahnung, wo ich war und wer bei mir war. Ich erinnere mich an viel Schock, viele Menschen, Trauer und Alleinsein. Irgendwo in all dem war meine beste Freundin. Aber sie war 15. Auch sie konnte nicht anders als nur neben sich stehen.

Es wird immer wieder gefragt, ob man Kinder mit auf Beerdigungen nehmen soll, oder nicht. Dafür gibt es kein Ja oder Nein. Das kommt sehr auf die Umstände an. Was jedoch ganz wichtig ist: Kinder müssen begleitet werden. Kinder brauchen jemanden an ihrer Seite, der sie auffängt, sie im Notfall da herausholt. Vor allem gilt: Wenn wir als Eltern ahnen oder wissen, dass wir an diesem Tag nicht wir selbst sein werden, dann sollten wir unseren Kindern diesen Anblick ersparen. Denn ja, Kinder dürfen uns traurig sehen, auch weinen sehen. Aber wenn sie uns so völlig außer uns sehen, so völlig aufgelöst und verzweifelt, dann kann das sehr verstörend sein.

Redet mit Euren Kindern. Das Schweigen. Das einsame Schweigen, das in meiner Familie vorherrscht, hat mich verrückter gemacht als die Tatsache an sich. Das Herunterspülen von Gefühlen, das Ablenken und Verwischen. Erst später habe ich begonnen mit meinem Vater darüber zu reden. Es ist so hilfreich, so gut. Auch wenn nichts zu helfen scheint, so schaffen wenige Worte mehr, als dieses eiserne Schweigen verletzt.

Mit Teenagern ist das schwierig. Ich denke, dass ich damals selbst unbedingt auf diese Beerdigung wollte. Ich weiß auch nicht, wo ich hätte bleiben können. Es waren ja alle dort, die ich kannte, die mir nahe standen. Weil alle ihm nahe standen. Aber es hätte dennoch jemanden gebraucht, der mich dort auffängt.

Irgendwann während dem Leichenschmaus wurde ich müde von Beruhigungstabletten und wurde nach Hause gefahren von den Eltern meiner Freundin. Ich schlief dann nur noch. Diese Tabletten haben wohl einiges vernebelt. Aber sie haben mir nichts aufarbeiten geholfen. Bisher hat mir nichts geholfen, das aufzuarbeiten.

Therapeuten für sich selbst. Aber auch Therapeuten für Kinder. Auch das ist eine Möglichkeit, die man in solch einer Zeit in Betracht ziehen sollte. Unbedingt. Je weniger man mit sich durchs Leben schleppt, umso besser. Ich schleppe noch immer. Immer weiter. Ich mache meinen Eltern keinen Vorwurf. Sie waren ja komplett neben sich und außer Stande, sich um all das Gedanken zu machen. Wer jedoch die Kraft hat, der sollte das tun. Für sich und seine Kinder. Und wer die Kraft nicht hat, der sollte einen eigenen Therapeuten für sich selbst suchen. Wer sich selbst nicht stützen kann, der kann seine Kinder nicht stützen. Nicht ausreichen. Und das ist nicht genug.

Aber eigentlich wünsche ich eigentlich niemandem, dass er sich mit solche Gedanken tauseinandersetzen muss. Niemandem.

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Wirklich traurige Erkenntnisse liebe Nadine und mein herzlichstes Beileid. Vielleicht ein Stück Trauerbearbeitung, auch diesen Teil von Dir mit Deinen Lesern zu teilen. Es ist traurig, dass sich niemand wirklich um Dich gekümmert hat. Sie waren wohl zu sehr mit ihrem eigenen Schmerz beschäftigt?!
    Begleiten finde ich wichtig. Im Februar ist meine Mama gestorben. Es ging ganz plötzlich, wir wollten noch die 1200 km zu ihr fahren, haben es aber nicht mehr geschafft und die Nachricht kam dann um Mitternacht, im Auto. Natürlich war mein großes Kind (4,5 Jahre) im Auto und wir hatten ihm auch gesagt warum wir so plötzlich nach Deutschland fahren. Das Beerdigungsunternehmen war toll und hat mir gleich die passenden Kinderbücher empfohlen. Wir haben besprochen was da auf uns zukommt und das war gut und wichtig. Er hatte entschieden mit zu kommen zur Beerdigung. Meine Freundin war in Reichweite hinter uns und wir haben ihm gesagt, wenn er nicht mehr mag, dann soll er mit Ihr raus aber er blieb.
    Den eigenen Bruder mit 14 zu verlieren- das ist glaub ich nochmal extremer. Ich wünsche Dir, dass Du das für Dich verarbeiten kannst und lautet schöne Erinnerungen an Deinen Bruder zurückbleiben!
    Fühl Dich gedrückt!

  2. Jenny

    Dein Verlust tut mir sehr leid und ich möchte Dir mein tiefes Mitgefühl aussprechen.
    Ich kann Deinen Verlust, zum Glück, nicht „nachvollziehen“, wohl aber (zum Teil) den Verlust Deiner Eltern.
    „Außer sich sein“ beim Verlust eines, seines, Kindes trifft es genau. Meine beiden großen Kinder wollten und mussten nicht mit zur Beerdigung ihres Bruders, aber sie haben erlebt das es mir danach besser ging-viel besser. Und so habe ich die große Hoffnung das es so ist wie R.Steiner es mal sagte, nämlich das Kinder sehen dürfen das Erwachsene/Eltern unglücklich, tief traurig und „außer sich“ sind aber auch immer erleben müssen das sie wieder heraus kommen aus diesem Zustand um zu erfahren das nach Schatten immer Licht kommt.
    Lieben Gruß
    Jenny

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