Als Herr Klein mit sechs Monaten am Herz operiert wurde, habe ich mir eines gesagt: Ich will ihm nicht nachsagen, dass ihn das zwingend traumatisiert. Dann stülpe ich ihm ein Trauma über, das er gar nicht unbedingt tragen muss. Aber ich will ihn im Auge behalten, wachsam sein, und die ersten Anzeichen für eventuelle Nachwirkungen rechtzeitig erkennen und mit ihm bearbeiten.
Dass ein Bruder anders ist als seine Schwester, ist nichts außergewöhnliches. Auch nicht, dass zwei Kinder gleicher Eltern generell so ihre Unterschiede haben. Doch Frau Klein hat uns immer mehr gezeigt, dass Herr Klein eben nicht nur anders als andere Kinder ist und handelt, sondern dass das auch nicht mehr wirklich nur anders, sondern schon teilweise besorgniserregend, zu beobachten und schlussendlich auch zu behandeln ist. Lange fragten wir uns, was denn mit ihm los sei, warum er denn so sei und nicht so, warum er denn all das, was andere Kinder tun nicht tut. Oder umgekehrt. Weit über das „Jedes Kind ist anders“ hinaus. Ein Spruch, den ich selbst nicht mehr sagen und hören konnte.
Vieles haben wir probiert. Gespräche geführt daheim und mit Außenstehenden. Mit Fachleuten. Dann wurde es kurz besser und wir glaubten, auf dem Weg zu sein. Und dann fanden wir uns wieder im gleichen Sumpf. Bis ich schlussendlich sagte: Wir haben nichts anders gemacht, nichts falsch oder bei Frau Klein besonders richtig. Was die zwei Kinder besonders unterscheidet, ist diese gottverdammte Herz OP. Und mehr und mehr wurde mir klar: Wie kann ein Kind mit sechs Monaten am offenen Herz operiert werden und davon unbeeinträchtigt und ohne Nachwirkungen aufwachsen? Mehr und mehr erkannte ich: es war Zeit, das, was ich täglich sah, wach anzunehmen und zu tun, was zu tun ist. Nur was genau das ist, ist mir noch nicht ganz klar. Oder vielleicht weiß ich es, aber der Weg ist holprig und steinig. Die Angst, zu weit zu gehen, zu viel zu tun, ist immer da.
Nun hatten wir die PolypenOP. Ein harmloser Eingriff. Für uns als Familie eine große Geschichte. Nervenaufreibend. Mit viel Aufregung. Zum Glück endlich mal eine positive Erfahrung. Einfühlsam und sanft überstanden. Gut begleitet und – das ist besonders neu – mit viel Reden begleitet. Endlich endlich können wir das tun, was uns seit Jahren die Menschen raten und was nie wirklich funktioniert hat: Mit ihm reden! Mit Herrn Klein zu reden ist oft wie Wasser auf einen Schwamm zu kippen. Er saugt und saugt, hauptsächlich durch seinen treuen Begleiter den Daumen. Alles hinein in sich. Aber es kommt nichts zurück. Doch irgendwann wird er voll sein, und dann? Die Seen aufzuwischen möchte ich nicht allein ihm überlassen.
Denn Fakt ist auch: es geht nicht nur um ihn. Es geht auch um uns. Denn auch mit uns hat die Geschichte etwas gemacht. Ein Kind zu bekommen, dass nicht den „Erwartungen“ entspricht („Hauptsache g’sund!“ – wie ich ihn gehasst habe, den Spruch), das andere Bedürfnisse stellt, mehr Energie aus anderen Richtungen als den „Üblichen“(Schlaf, Kalorien, Geduld etc.) fordert, hinterlässt seine Spuren, zieht diese durch das gemeinsame Leben.
Und so begeben wir uns nun vorsichtig auf die Reise der Aufarbeitung. Und weil Herr Klein so angetan ist von einem vom Krankenhaus zur Verfügung gestellten Buch über Hase Moritz und seine PolypenOP, habe ich beschlossen, ihm ein Buch zu gestalten über seine Herz OP. Mit Bildern, die nicht nur schön, sondern auch verständlich ehrlich sind. Mit seiner Geschichte zum anfassen und der Einladung, weitere Fragen zu stellen.
Heute auf dem Weg zur Nachuntersuchung der polypenfreien Nase, fuhren wir wie immer am AKH vorbei. An dem Betonklotz, in dem sein Herz repariert wurde, wie ich es mir liebevoll selbst schönrede. Ich habe ihm den Klotz gezeigt und gesagt:
„Da wurdest Du auch schon mal operiert.“
„Als ich klein war?“
„Ja, als Du ein Baby warst.“
„Wieso?“
„Weil Dein Herz kaputt war. Das wurde dort repariert.“
„Warum war mein Herz kaputt?“
„Tja, das wissen wir nicht. Bei manchen Kindern ist das so.“
„Und Frau Klein? War ihr Herz auch kaputt?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Das weiß ich nicht. Manche Kinder haben gesunde Herzen, manche nicht. Die müssen dann repariert werden.“
„Wie haben sie mein Herz repariert?“
uff
Ein erster wirklicher Dialog. Nach fast fünf Jahren. Und für mich das Zeichen: Es ist höchste Zeit für das Bilderbuch. Also ran an die Arbeit!
Das Bilderbuch ist so ein tolles Projekt! Ich bin sehr gespannt, wie du das Thema umsetzt.
LG, Micha
Eine schöne und berührende Idee! Auf einem Blatt Papier werden die Dinge oft klarer und können von anderen Perspektiven angeschaut werden. Gute Arbeit!
Du bist eine unglaublich großartige Mama
Mach weiter, hör nicht auf!
Ihr werdet gemeinsam heilen – und dann ist sein Herz vielleicht auch ein wenig mehr geheilt, weil er sich selber anders wahr nehmen kann.
Und bitte zeige uns mehr von diesen wundervollen Bildern, die du für ihn malst.
Ihr seid auf einem kraftvollen Weg.
Ganz viel Liebe
Ana
eine gute idee mit dem buch! und ich glaube, es wird für dich genauso hilfreich sein, dich auf diese weise nochmal damit auseinanderzusetzen. jetzt seid ihr vielleicht beide „reif“ dafür. alles gute, andrea
das ist so wunderschön, wie du Mama bist…. !!
Nun habe ich doch tatsächlich feuchte Augen, eine großartige Idee ist das Buch und aus deinen Worten spricht so viel Liebe …