Gesamtbild

IMG_8381Als ich Studentin war, hatte ich eine sehr enge Freundin. Wir waren uns sehr ähnlich, was womöglich letztendlich auch das Problem war. Jedenfalls waren wir einen Sommer im Urlaub und hatten Farben, Pinsel und Papier dabei. Wir setzten uns abends zusammen und unterhielten uns auf dem Papier.

Dabei malte immer nur eine von uns. Die andere saß daneben und sagte nichts. Sie kommentierte nicht. Unterhielt aber auch nicht. Schaute einfach nur zu und ließ das Geschehen wirken. Dann malte die andere. Setzte dort an, führte dort Striche weiter und erweiterte das Bild. Es entstand so ein Streit auf Papier. Ihre Linien gefielen mir nicht, das was ich malte, veränderte sie. Es war recht bald zu spüren, dass keine mit dem, was die andere tat, zufrieden war. Irgendwann legten wir die Pinsel beiseite und gingen wortlos schlafen.

Am nächsten Morgen betrachteten wir beide das entstandene Bild und lachten. Wir waren begeistert. Das Bild im Gesamten gefiel uns so gut, dass wir selbst überrascht waren. Und vor allem waren wir nun in der Lage uns gegenseitig zu sagen, wie es uns bei der Malerei ergangen war. Es war sehr befreiend.

Die Erfahrung war sehr eindrücklich und hallt heute noch manchmal nach. Einen Schritt zurück gehen. Einfach mal drüber schlafen. Das Bild im Gesamten betrachten. Vor allem, wenn wir festgefahren sind und uns aus dieser einen kleinen Situation, die Teil des Ganzen ist, nicht mehr objektiv heraussehen, kann uns das retten.

Auch mit Kindern sind wir oft an einem Punkt, an dem wir nicht weiter wissen. Warum tun sie so und so, aber nicht so oder so? Warum wird das nicht besser? Was ist bloß los? Als Eltern kennen wir diese Gedanken zu gut. Manchmal löst sich das alles nach einer Zeit. Vor allem dann, wenn man aufhört, so akribisch in der Situation zu grübeln. Meistens hilft es auch hier einen Schritt zurück zu gehen. Nicht nur das Kind und sein Verhalten, sondern unseren Alltag, unsere eigenen Gedanken und Gefühle, unser Verhalten und unser gemeinsames Sein zu betrachten. Das Gesamtkunstwerk. Das mal von der Sonne beschienen wird. Und mal im Schatten hängt.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. ann-ka

    Tolle worte die du gefunden hast und so wahr!

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