Heute hatte Herr Klein Besuch von der kleinen Nachbarin R. Irgendwann stand sein Freund, der kleine C. vor der Tür und wollte mit ihm spielen. Der war wenig angetan davon, dass R. da war und begann durch ungemütliche Versuche, sie rauszuekeln. Sie ließ sich aber nicht einfach abschieben und so begann ein Streit, den Herr Klein aufmerksam beobachtete. Irgendwann beschloss er, mit R. ins Zimmer zu gehen und zu spielen. C. stand etwas bedröppelt da und sagte: „Ich will mit Dir spielen.“ und Herr Klein antwortete trocken: „Ich will aber nicht.“ Woraufhin C. traurig von Dannen zog.
Unser erster Impuls ist die Rettung der Situation. Das Trösten von C. Der Versuch, alle drei könnten glücklich werden. Gleichzeitig war ich beeindruckt von der Klarheit und Ehrlichkeit, mit der Herr Klein ausgedrückt hatte, was er jetzt will. Oder nicht will.
Uns fällt das schwer. Warum? Weil wir Ehrlichkeit oft nicht gewohnt sind. Wir können schwer mit ihr umgehen. Obwohl – das behaupte ich – sie uns sehr sehr gut tun würde.
Als ich in Schottland lebte, war ich umgeben von Smalltalk und falscher Höflichkeit. Dem unehrlichen Lächeln. Britische Höflichkeit. Ich hatte es schwer, weil ich nicht höflicherweise das Wetter doof fand, weil ich nicht höflicherweise noch ein Bier trank. Oder drei. Ich hatte es schwer, weil ich ehrlich war. Weil ich den Regen mochte und das auch noch sagte. Weil ich das Konzept der getrennten Kalt- und Warmwasserhähne nicht akzeptieren konnte und mich darüber (öffentlich) aufregte. Weil ich somit die Britische Kultur und Lebensweise kritisierte.
Natürlich gibt es einen Pfad zwischen Höflichkeit, Akzeptanz der Gegebenheiten und den eigenen Vorstellungen. Wenn ich in ein Land mit so anderer Kultur ziehe und dort wohne, liegt es an mir, gewisse Dinge zu akzeptieren und anzunehmen. So also die getrennten Kalt- und Warmwasserhähne. Ansonsten wäre es besser, ich bliebe zu Hause. Aber es bedeutet nicht, dass ich mich verstelle und verbiege. Das habe ich dort nämlich getan. Es hat dazu geführt, dass ich 10kg zugenommen hatte und ziemlich unglücklich war. Nicht über das Gewicht, sondern über mein Leben dort, die Unfähigkeit ich selbst zu sein. Die Unmöglichkeit, ich selbst sein zu dürfen.
Weil Ehrlichkeit nicht gefragt war. Nicht geschätzt war und eigentlich das letzte war, was man hören wollte. Vielleicht auch eben nicht das, was man selbst einsehen wollte.
Unsere Kinder besitzen diese Ehrlichkeit noch ganz tief drinnen, im Inneren. Weil sie ganz sie selbst sind. Aber wie lange? Bis wir sie bitten, sich für Dinge zu entschuldigen, die sie aus innerem Trieb und wirklicher Absicht getan haben? Indem wir sie quasi bitten zu lügen? „Entschuldige Dich!“ Eine Forderung, die – wenn überhaupt – nichts als ein gequältes, falsches und unehrliches „Tschuldigung“ bringt. Eins, das uns überhaupt nicht hilft.
Aber Unehrlichkeit beginnt auch dann, wenn Kinder merken, dass wir ihre Ehrlichkeit nicht aushalten. Dass wir mit unseren eigenen Moralvorstellungen, mit denen unserer Eltern oder – noch schlimmer – denen, von denen wir glauben, dass die Gesellschaft sie trägt, in die Quere kommen.
Wie viele von Euch haben schon mal etwas gekauft, weil sie es nicht geschafft haben, dem übereifrigen Verkäufer zu sagen, dass uns etwas aber doch nicht sooo gut gefällt? Oder zu teuer ist?
Wie viele von Euch haben schon mal genickt und dabei „Um Gottes Willen niemals!“ gedacht?
Wie viele von Euch haben ihren Eltern verschwiegen, dass sie geraucht haben? Oder getrunken?
Wie viele von Euch haben schon Essen geschluckt und behauptet es würde schmecken, nur, weil alle anderen es auch sagten?
Wie viele von Euch sind in Beziehungen geblieben, nur noch ein wenig, aus Mitleid? In der Hoffnung, es würde sich „von selbst“ erledigen?
Wie viele von Euch fanden Kunst, Texte, Musik oder ähnliches furchtbar und haben es gelobt, weil es von guten Freunden, von nahestehenden Menschen war?
Unehrlichkeit ist überall. Und im Zeitalter des Internets noch einfacher. Ich kann Tweets, die ich nicht aushalte, einfach unbeantwortet lassen. Kan Facebook Posts ignorieren. Manchmal ist das auch gut. Wenn wir den Weg zwischen Ehrlichkeit und verletzender Abneigung nicht finden. Aber manchmal tut Ehrlichkeit – auch über die unbekannte Distanz hin – gut. Weil sie hilft zu reflektieren. Mich selbst zu hinterfragen. Und weil sie mir Klarheit gibt. Klarheit, die mich nicht im Dunkeln tappen lässt. Ein ernster Blick, statt einem schwammigen unehrlichen Lächeln. Ein Mensch, der uns verlässt, weil er uns nicht mehr liebt, tut uns weniger weh, als ein Mensch, der mit uns weiter den Weg entlang geht, und innerlich lieber weit weg wäre. Oder?
Unsere Kinder besitzen noch diese innere Ehrlichkeit. Diese kindliche, oft belächelte „Du bist ja doof!“ Ehrlichkeit. Dabei glaube ich, dass es eine sehr wertvolle Eigenschaft ist. Eine, die uns abhanden gekommen ist. Die uns Erwachsene so fordert, dass sie uns aufrüttelt. Und im besten Fall wachsen lässt.
Du triffst es mal wieder auf den Punkt! Je älter ich wurde und werde, desto mehr befreit mich Ehrlichkeit. Ich mag eben nicht mehr Dinge tun, nur weil andere es vielleicht mögen würden, dafür ist mir meine zeit zu schade.
Lieben Gruß aus Aachen von Sandra