„Schlechte Nachrichten.“
Der Träger mit dem Raucheratem schaute sie alltagsdressiert an. Träger. So nannte man im Krankenhaus die Menschen, die die Betten von A nach B schoben. Schieber eigentlich. Aber das würde zu sehr an medizinische Behältnisse erinnern. Also Träger. Der Träger kam nach 8. Um 8 hatten sie gesagt würde er kommen. Seit 6 waren sie wach und warteten, dass es 8 würde. Die war jedoch morgenmufflig langsam.
„Wie geht es Dir?“ fragte sie ihn. Weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.
„Beschissen.“ antwortete er und brach in Tränen aus. Tränen, die sie nicht erwartet hatte, die sie nun versinken ließen, weil ihr der Boden unter den Füßen schwand. Sie umarmte ihn und wollte trösten. Dabei hielt sie sich an ihm fest und tröstete sich. Denn soeben war ihr mit dem Wort „beschissen“ und dem Tränenschwall ihr Sicherheitsanker genommen. Bis hier her hatte sie geglaubt er hätte alles im Griff. Er wäre ihre Kraft, ihr Halt. Stattdessen hielt sie sich selbst an ihm und damit er sich an ihr fest. Gemeinsam den Anker suchend. Damit niemand versank und zerbrach.
In ihren Händen hielten sie ihn fest, den Anker und folgten dem Träger, der sie nach 8 abgeholt hatte, durch die Irrwege des großen Krankenhauses. Sie eilten, denn er schien die Verspätung aufholen zu wollen. Stumm liefen sie ihm nach, liefen die Tränen die Wangen herab und suchten sie mit verschwommenen Augen Fixpunkte, die sie am Rückweg nicht verirren ließen. Aus dem Gang raus, dann links, über eine Brücke und dann rechts, mit dem Lift auf Ebene 09, dann rechts. Überall eilten Menschen und Betten umher, Träger schoben und Tränen rollten. Anspannung füllte die Lücken. Die Zwischenräume zwischen den einzelnen Schicksalen hier.
Vor einer großen Tür blieben sie stehen. Und er sagte „Schlechte Nachrichten.“ Welche schlechten Nachrichten konnten das sein? Schlechter als die Tatsache, das eigene Kind heute hier an den OP zu übergeben?
„Hier darf nur einer rein.“
Zum zweiten Mal schwand ihr der Boden unter den Füßen, hielten sie ihren Anker ganz fest in der Hand und schauten sich hilflos durch einen Vorhang aus Tränen an. Nur einer? Bis hier her waren sie gegangen. Gemeinsam. Mit ihrem Sicherheitsanker fest in der Hand. Auf dem schwierigsten Weg ihres Elternseins. Und nun kam das Beil von oben gerauscht mit Raucheratem und alltagsdressiertem, fragendem Blick und zerhackte ihnen den Anker in ihrer Hand. Hilflose Sekunden vergingen. Die Entscheidung herbeigeholt in einer Umarmung, die Festhalten und Loslassen, Angst und Befreiung miteinander verstrickte. Dann blieb er da und sie ging durch die aufschwingende Tür.
„Sodala, da müssens no a bissal warten. Die holn ihn dann hier ab. Alles Gute.“ Eine Floskel, die so kühl und steril klang, wie dieser Raum, in dem sie sich behutsam umsah. Über einen Tisch gebeugt drängten Medizinstudenten um den besten Platz im besten OP. In einer anderen Ecke beruhigte eine Frau ihr weinendes Kind. Ein Mann lag ruhig in seinem Bett und starrte an die Decke. Und vor ihr, in diesem metallenen Gitterbett, das eben wie der Wagen des kleinen Häwelmanns durch die Flure gesaust war, lag ihr Sohn. Schon leicht betäubt, das Treiben beobachtend oder sich seiner Betäubung hingebend. Das konnte sie nicht ausmachen.
Dann wurde sie still. Ganz still. Sie nahm ihr Kind aus dem Bett und hielt es in sich gedrückt, ganz sanft. Dann begann sie zu reden. „Zuerst werden sie Dich betäuben und dann wirst Du schlafen, ganz lange schlafen. Ich hoffe Du träumst etwas schönes. Dann werden Sie Deine Brust aufschneiden…“
Ruhig und bestimmt, mit klaren Worten, von denen sie nicht wusste, woher sie kamen und mit allem medizinischen Wissen, dass die letzten Monate ihr angeeignet hatten, durchlebte sie mit ihrem Kind das Bevorstehende und spürte einen warmen, leichten Umhang sich um ihre Schulter legen. Erleichterung und das Gefühl der Sicherheit nahmen sie ein. Es war soweit. Das Warten war vorbei und bald würden sie statt ängstlich nach vorn, kraftvoll zurück blicken können. Dann erwachte sie, der Umhang fiel und fünf in grün gekleidete Menschen sahen sie freundlich lächelnd an. Bereit ihr das Kind zu nehmen und auf das nur für Chirurgen vorstellbare vorzubereiten. Sie nickten ihr zu, als sie ihm einen letzten Kuss gab und sprach „Ich warte auf Dich.“ Sie gab ihn aus der Hand und ging.
Die Kraft blieb zurück und weilt dort noch immer.
Da kommt beim Lesen so einiges hoch … unser kleiner Schatz hatte mit einem Jahr auch eine große OP.
Unsagbar was da alles im Kopf und im Herz vor sich geht wenn man ihn den Ärzten übergibt.
Wünsch euch das Beste für die Zukunft!
ein unglaublich schöner uns sehr sehr berührender text!!! danke
* … der Text rührt mich zu Tränen … bin unruhig am Ende, möchte unbedingt wissen, wie es weiter geht … so hoffe ich, dass alles gut wird!
Toll geschrieben, sehr aufwühlend und berührend. Man wird hineingezogen in die Situation und fragt sich automatisch,was man selbst tun/wie man sich fühlen würde, wenn man so etwas durchmachen müsste, ob man tatsächlich auch diese Kraft finden würde…