Balotelli

Gestern hat uns Balotelli aus der EM geschossen. Das erste Tor war noch ein recht leichter Schock. Das zweite kam dann schon einem Herzstillstand nahe. Als Balotelli dann losrannte, sein Trikot über den Kopf zog und versteinert wie eine Statue am Spielfeldrand stand, dachte ich mir ernsthaft „Was für ein Arschloch!“ Bis der Kommentator begann, aus Balotellis Leben zu plaudern.

Natürlich bin ich enttäuscht. Wie gern hätte ich den Jungs zum einen den Bruch des Bannes gegen Italien gewünscht, zum anderen endlich mal wieder einen Titel. Letztendlich aber geht das Leben heute einfach seinen gewohnten Gang weiter. Für die einen im Bus nach Hause. Für die anderen mit der mentalen Vorbereitung aufs Finale.

Und während sich die Presse nun das Maul zerreißt über Balotelli, ihn huldigt und lobt oder seine Skandale und Patzer ausschlachtet, muss eines erwähnt werden – er kann für Seinesgleichen viel bewirken.
Seinesgleichen? Damit meine ich Kinder aus schwierigen Verhältnissen. Denn was diese Kinder vor allem brauchen sind Träume. Träume und Mut, ihnen zu folgen. Natürlich auch eine Portion Selbstvertrauen. Das ist es ja, was ihnen oft fehlt. Wer sind sie schon ohne Geld, ohne Bildung? Was es braucht ist ein Idol, einer, der so war wie sie, der es geschafft hat nach oben. Ganz oben.
Und nein, natürlich sind seine Ausrutscher nicht das, was ich als Vorbild für diese Kinder sehen möchte. Aber die gehören zu ihm. Und sind in diesem Moment nebensächlich. Denn was zählt ist, dass er ein großer Fußballer ist. Dass er sich nach oben gekickt hat. Mit Ehrgeiz und Willensstärke. Einer Perspektive gefolgt, einem Traum. Dinge, die uns oft so schwer fallen. Die wir uns dann für unsere Kinder wünschen.

Warum ich das hier schreibe? Weil es mich beschäftigt hat. Vor allem, weil auch ich diese Sichtweise erst in der 2. Spielhälfte nach und nach entdeckt habe.
Als der Kommentator eben aus dem Leben Balotellis plauderte. Aus seiner Kindheit. Und mir klar wurde, dass er nicht unbedingt ein arrogantes Arschloch ist, sondern ganz andere innere Motoren dieses Verhalten bei ihm steuern. Weil er die ersten so wesentlichen Lebensjahre nicht in den Armen seiner Eltern, sondern im Krankenhaus und in einer bereits fest bestehenden Familie verbracht hat. Weil für ihn Urvertrauen, Liebe und Zuneigung keine Alltäglichkeiten waren. Und somit schwer zu geben sind.

Auch für mich war das gestern eine neue Erfahrung und die hunderttausendste Einsicht, dass Bewertungen anhand von einer einzigen beobachteten Handlung einfach falsch sind. Falsch sein können.

‎“Die höchste Form menschlicher Intelligenz ist die Fähigkeit,
zu beobachten ohne zu bewerten.“
Jiddu Krishnamurti

Versucht es mal. In der U-Bahn sitzen, auf der Straße, am Spielplatz. Beobachtet und versucht, nicht zu bewerten. Unmöglich? Nun – Einsicht ist der erste Weg…

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