Gestern fuhr ich mit den Kindern baden. Das heißt bei beiden eigentlich nur, dass sie mit den Füßen in ein Gewässerchen gehen und etwas herumplanschen. Herr Klein sagte, er würde heute bis zum Po ins Wasser gehen. „Weiter darf man nur, wenn man schwimmen kann.“ Ich sagte, dass er ja schwimmen lernen könne, woraufhin er antwortete: „Ja, aber erst, wenn ich ein bisschen größer bin.“
Was Herr Klein mir damit eigentlich sagte: „Ich bin noch nicht bereit.“ Und das akzeptiere ich. Natürlich wäre er alt genug dafür, schwimmen zu lernen. Ich könnte einen Kurs finden oder es ihm selbst versuchen beizubringen. Und mit dem anstehenden Urlaub in Griechenland wäre das auch irgendwie passend. Aber wenn es ihm Freude bereitet, bis zum Po im Wasser zu stehen oder im flachen Wasser zu sitzen, dort herum zu planschen und sich so dem Wasser zu nähern, ist das für mich perfekt. Denn dass Herr Klein überhaupt Fuß ins Wasser setzt, ist schon sehr viel, nachdem er lange Zeit das Wasser verabscheut hat. Frau Klein ist ebenso zaghaft und somit müssen wir sowieso in der Nähe der Kinder bleiben, wo Wasser ist. Die Gefahr des Ertrinkens besteht somit unter normalen Umständen nicht.
Und es geht mir auch nicht darum, wann es an der Zeit wäre, etwas zu lernen. Es geht darum, wann ein Kind bereit dazu ist, etwas zu lernen. Und das allein weiß nur das Kind selbst. Ich habe einmal darüber geschrieben, wie Herr Klein immer und immer wieder überschätzt wurde, wie mir immer und immer wieder gesagt wurde, wofür er denn nun schon bereit wäre. Und immer und immer wieder habe ich gelernt: Ich werde sehen und spüren, wann er bereit ist. Er selbst wird es mir zeigen. Ganz klar und deutlich.
Dabei geht es nicht nur um unsere Geduld, die natürlich oft strapaziert wird. Wir sind gespannt, wir freuen uns über jeden neuen Schritt der Kinder. Unser inneres Kind ist daran nicht ganz unbeteiligt. Und leider, wie zu oft, auch der Vergleich mit anderen Kindern nicht. Aber was wir unserem Kind schenken, indem wir abwarten und beobachten, ist viel mehr wert, als ein zu schnelles Beibringen von Fähigkeiten, zu denen ein Kind noch nicht bereit ist.
Letztes Jahr stellte Herr Klein nach einem Ausflug sein Laufrad im Fahrradraum ab und begutachtete die kleinen Fahrräder der anderen Kinder. Er tat das öfter, spielte an deren Klingeln und schaute sich um. Dann fragte er mich, auf ein sehr kleines Rad zeigend, ob er das ausprobieren könne. Ich holte es ihm heraus und hielt es ihm hin. Zwanzig lange Minuten probierte er, setzte sich drauf, schob sich mit den Füßen an, zog die Beine hoch, verpasste die Pedalen, zerkratzte sich die Unterschenkel. Und dann hatte er es heraus. Er fuhr kurze Strecken ganz allein. Er hatte sich das selbst beigebracht und strahlte von einem Ohr zum anderen darüber. Heute fährt er leidenschaftlich gern Fahrrad. Dass er nun erste Tricks versucht wie einhändig oder freihändig fahren, werden meine Nerven auch noch irgendwie überstehen.
Die Kinder schaffen durch unsere Geduld und Zurückhaltung etwas aus ganz eigenem Antrieb, eigener Motivation und Kraft heraus. Sie wollen und sie wollen unbedingt. Und das lässt sie dann auch erfolgreich sein, ihnen gelingt etwas ganz Neues und das allein bringt nicht nur große Freude, sondern auch sehr viel Selbstvertrauen.
Wenn wir ein Kind, das noch nicht bereit fürs Laufrad ist, es nun aber Frühling ist und die Sonne lacht, das Laufrad funkelnagelneu bereit steht, auf dieses setzen, anschieben und ständig motivieren, es auszuprobieren, bekommt das Kind das Gefühl: Ich sollte das können, aber ich fühle mich unwohl, unsicher und es gelingt mir nicht so richtig. Ich kann das nicht, ich schaffe das nicht. Das stärkt nicht unbedingt das Selbstvertrauen und am Ende hat niemand wirklich Freude daran.
Wir sorgen uns oft darum, dass die Kinder selbstbewusst und selbstsicher durchs Leben gehen. Aber wir sehen dabei nicht, dass die Grundlage dafür – Selbstvertrauen, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, ins eigene Ich und die eigenen Eigenschaften – sehr früh gelegt wird. An der Festigung dieses wesentlichen Fundamentes sind wir sehr intensiv beteiligt, indem wir eben unsere Kinder nicht drängen, sondern ihnen Zeit geben. Sie gehen lernen lassen, ohne sie dabei zu früh hochzuziehen, sie Radeln, Rutschen oder Klettern lassen, wenn sie dazu bereit sind. Und sie dem tiefen Wasser überlassen, wenn sie sich darin wohl und sicher fühlen. Erst dann, wenn das Gefühl des „Jetzt will ich unbedingt!“ da ist, ist auch die Fähigkeit innerlich gereift. Und dann kann ein Kind freudvoll neues schaffen und sich in die Wellen schmeißen.
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