(zu) hoch hinaus und die Kunst des Fallens

IMG_9289Immer wieder erwähne ich in meinen Posts, wie wichtig es ist, die Grenzen der Kinder zu respektieren. Sie wahrzunehmen, aber auch zu akzeptieren. Weil Kinder eben nicht immer so offen und aufgeschlossen sind wie wir. Weil sie von Natur aus vorsichtig sind, sich ihre Welt und ihre Grenzen selbst erarbeiten. In ihrem Tempo.

Es mag nun sein, dass einige innerlich bereits protestieren. Den Kopf schütteln. Weil ihre Kinder alles andere als vorsichtig sind, weil sie draufgängerisch sind. Weil sie voreilen, sich immer wieder stoßen, fallen und stolpern. Das kann verschiedene Gründe haben – meistens jedoch gibt es einen: wir haben zu früh in die natürliche Bewegungsentwicklung eingegriffen. Wir haben unser Kind aufgesetzt, bevor es selbst frei sitzen konnte. Wir haben es aufgestellt, bevor es sich hochziehen konnte. Wir haben es auf Klettergerüste gehoben und von Rutschen geschoben. All das bedeutet vor allem eins: Wir verhelfen unserem Kind dazu, über seine eigentlichen Grenzen hinauszugehen. Das Kind erfährt: Wow, ich kann ja bis hier her schon. Das gefällt mir, hier will ich sein. Es versucht das dann auch allein, wird entweder frustriert oder verliert unterwegs sein eigenes Körpergefühl, geht über sich selbst hinaus. Und fällt.

grenzenlose Grenzen
Ein anderer Grund, warum Kinder „draufgängerisch“ sind, kann sein, dass sie zu früh zu weit gesteckte Grenzen hatten. Dass sie klettern durften, wo es für ihre Entwicklung noch zu gefährlich war. Ich erinnere mich gut an eine Mutter, deren Kind im fahrenden Bus vom Sitz aus auf die Querstange zum Kinderwagenbereich kletterte. So lange, bis der Busfahrer die Mutter bat, ihr Kind dort wegzunehmen, weil es im Falle einer heftigen Bremsung oder Kurve sehr leicht fallen könnte. Wenn wir unseren Kindern zu früh Stufen oder Sessel, Tische, Leitern oder Stangen überlassen, von der Meinung getrieben, wo es hinaufkommt, kommt es auch wieder hinunter, kann es passieren, dass sie zu früh diese vielen Möglichkeiten ausprobieren und sich womöglich wirklich verletzen.

Mitentwickeln und Vertrauen
Es ist sicher nicht leicht, den Bewegungsdrang eines Kindes zu stillen und gleichzeitig Sicherheit zu bieten. Wir können schlecht alle Stühle stets und ständig aus dem Weg räumen, die Tische umdrehen. Aber wir können versuchen die Räume weitestgehend zu sichern und dort, wo es nicht geht, dabei zu bleiben. Wir können Klettergeräte beschaffen, die der Entwicklung unserer Kinder entsprechen. Das müssen nicht immer die teuren Piklergeräte sein, sondern können auch einfache Kisten und Schachteln, Wäschekörbe oder Hocker sein. Es können später kleine Trittleitern sein.

Am wichtigsten ist jedoch eins: Dass ich meinem Kind von Anfang an vertraue und Zeit gebe, dass es sich selbst in Ruhe entwickeln kann. Dass ich in Ruhe zusehe, wie es rollen, krabbeln, sitzen, stehen und gehen lernt. Wenn ich hier geduldig beobachte, werde ich erkennen, wozu mein Kind fähig ist. Und wozu (noch) nicht. Und dann werde ich auch sehen, dass es oft gar nicht das Kind ist, was so hoch hinaus will, sondern dass wir es sind, die wollen, dass unser Kind das will. Denn ein Kind, was unten auf die ersten zwei Sprossen einer Rutsche oder eines Klettergerüstes steigt, will nicht unbedingt um jeden Preis hinauf. Es testet, wie weit es kommt. Und wird wieder hinabsteigen, wenn es zu unsicher ist, wenn ihm eine Höhe zu ungeheuer ist. Schieben wir es an, motivieren und spornen wir an bis es ganz oben ist, öffnen wir die Grenzen unnatürlich weit. Wir jubilieren und loben, aber wir laden dabei ebenso Unsicherheit und möglichen Übermut ein.

Oft begegne ich Eltern, die sagen: „Er fällt ständig um. Er will immer stehen und dann fällt er auf den Kopf. Ich muss immer dabei bleiben und ihn auffangen.“ Dann sehe ich schnell, dass die Eltern oft das Kind zum Spiel hinsetzen, obwohl es diese Haltung noch nicht von sich aus einnehmen kann. Und man sieht schnell Ursache und Wirkung ganz einfach funktionieren. Das Kind, dass mehr von sich erwartet, als es kann.

gepolsterte Überbehütung
Das ständige Behüten und Beschützen kann genauso eine Rolle spielen. Viele Eltern beginnen den Boden zu polstern, wenn die Kinder sich lernen umzudrehen. Weil sie sich oft dabei den Kopf am Boden stoßen. Tatsächlich stoßen die Kinder sich ein paar Mal den Kopf – bei dieser Höhe ungefährlich – und lernen dann die Kunst des Fallens. Sie lernen, dass sie ihren Kopf anheben müssen, wenn sie rollen. Sie lernen, wie sie sanft das Gleichgewicht verändern. Bei jedem Entwicklungsschritt erlernen sie das aufs Neue. Die Gleichgewichtsverschiebung. Und die Kunst des Fallens. Ein Kind, was selbst in den Stand gekommen ist, wird in die Knie gehen und auf den Po fallen, wenn es fällt. Ein Kind, was „aufgezogen“ wurde, tendiert dazu, nach hinten umzufallen und sich – nun wesentlich schmerzhafter – den Kopf anzustoßen.

Es können oft auch die ungeduldig liebgemeinten Hilfestellungen von Freunden, Bekannten und Verwandten sein. Immer wieder ist zu beobachten, dass nach einem Besuch der Oma, die das Kind aufgestellt hat, mit ihm an den Händen spaziert ist, das Kind danach häufiger nach hinten umkippt, wenn es sich hochzieht. Weil es erfahren hat, dass es da etwas kann. Und nun schmerzhaft erfährt, dass es das nur mit Oma kann, nicht allein.

IMG_9290Lasst Eure Kinder am Boden stehen, lasst sie auf Sessel klettern, aber erklärt ihnen nicht, wie sie hinunter kommen. Wenn sie unsicher sind, reißen sie die Arme in die Luft und wir heben sie hinunter. Erklären, dass das wohl etwas zu hoch war, dass es sicherer ist, noch weiter unten zu klettern. Eines Tages werden sie ihre Füße ausstrecken, so weit, bis sie den Boden berühren und merken, dass es einen Weg hinunter gibt. Aber nur, wenn sie von sich aus, in ihren Grenzen und ihrem Tempo allein den Weg hinaufgehen konnten.

 

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Jenny

    Bei uns war immer/ist der „Richtwert“ das die Kinder so hoch klettern dürfen wie sie sich zutrauen und, wichtig, selber wieder runter kommen.
    Ja und der kleine Wolf traut sich….da muss ich auch mal kurz wegschauen. Gestern ist er das Klettergerüst für die ganz grossen Kinder hinauf geklettert, 2m hoch und nur aus Netz- das hat bei den anderen Eltern für Schnapp-Atmung gesorgt ;)

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