Sprich mit mir !

Letztes Wochenende hat sich Herr Klein seine Lippe an dem Metallbügel einer Wippe aufgeschlagen. So arg, dass wir hin- und hergerissen waren zwischen Nähen lassen oder nicht. Die Meinungen der herbeieilenden Mütter am Spielplatz waren ebenso divers. Und da Herr Klein leicht unter Schock stand, beschlossen wir eine kurze Fahrt ins Krankenhaus.

Dort musste Herr Klein geröntgt werden. Dank eines großen Schildes mit dem Hinweis auf Schwangerschaften blieb ich draußen und lauschte dem lauten Schreien meines Sohnes. Herr Groß versuchte drinnen verzweifelt Herrn Klein zu erklären, was geschehen würde. Die Assistentin, die das Röntgen durchführte, sagte daraufhin nur zu ihm: „Redens ned so viel. Legens ihn da her, in einer Minute isser wieder draußen. Der hört eh ned auf zu Schreien.“
In solchen Momenten ist man leider oft sprachlos. Aber es würde wohl auch nichts bringen, sich in Situationen, in denen das Kind nichts als Unterstützung und Beistand von uns braucht, in einen Streit mit anderen zu verfallen. So muss man lernen auszublenden. Und ganz beim Kind zu bleiben.

Denn wieso ist es so wichtig, dem Kind in solchen Situationen genau zu erklären was passiert?

In Anbetracht der Tatsache, dass der finstere Raum mit den überdimensional großen Geräten extrem bedrohlich wirkt (teilweise ja für uns Erwachsene schon), dass man den soeben erlebten Besuch im Sprechzimmer beim Arzt noch nicht ganz verdaut hat und dass womöglich die Lippe noch schmerzt und der Schock noch nachwirkt, sind das enorm viele Eindrücke, für so einen kleinen Kopf. Die gehören verarbeitet. Denn wenn wir uns an einen Unfall – egal wie klein oder groß – erinnern, so ist immer etwas Unbehagen dabei. Wir erinnern uns an Details, an Schmerzen oder den Schreck allein. Aber: wir haben Worte dafür. Können diese Dinge (zumindest im Kopf) benennen und uns oftmals logisch erklären. Kinder – vor allem vor und während des Sprachbeginns – können das nicht. Dennoch tragen auch sie Erinnerungen und Unbehagen mit sich herum. Dieses können sie dann nicht anders äußern als durch Weinen. Weinen in Situationen, in denen wir es womöglich nicht erwarten und nicht verstehen. Das führt zu einem Unverständnis ihrer Gefühle und somit zu einer ziemlich turbulenten Spirale, die wir dann womöglich einem „launischen Kind“ zuschreiben.

Herr Kleins Verarbeitung des Geschehenen sah so aus:
Noch am selben Nachmittag, endlich aus dem Krankenhaus wieder draußen, einem kühlenden Eis auf der Lippe, wollte er zurück zum Spielplatz. „Spielplatz weh getan!“ sagte er. Dort angekommen führte er uns direkt zur Wippe und sagte wieder: „Da weh!“ Er inspizierte den Metallbügel, an dem noch etwas Blut zu sehen war und wiederholte „Doll weh!“

Später fügte er diesen Erzählungen hinzu: „Doktor!“
„Ja, wir waren im Krankenhaus beim Doktor.“
„Foto!“
Genau, da haben sie Dich geröntgt und ein Foto von Deinem Kopf gemacht.“
„Papa!“ (hält dabei seine Hand auf seine Brust)
„Ja, der Papa war dabei und musste Dich festhalten.“
Herr Klein nickte nach jedem Satz bestimmt und in vollstem Verständnis.

Dieser Dialog findet seitdem mehrere Male täglich in unserem Haus statt. Und er zeigt mir, wie oft dieses Erlebnis in seinen Kopf schießt. Und letztendlich müssen doch auch wir ganz oft, immer und immer wieder, von einem Erlebnis erzählen, bis auch wir es etwas verdaut und verarbeitet haben und sagen können: „so, und jetzt will ich mal nichts mehr davon hören.“

Wie wichtig ist es nun (wenn möglich) im Vorfeld den anstehenden Ereignissen Worte zu geben?

„Mein größter Wunsch wäre aber, dass wir alle Eltern, Hebammen, Schwestern und Ärzte lernten, Babys, wann immer dies möglich ist, bevorstehende Eingriffe vorab zu erklären und dann mit Worten zu begleiten; so könnten wir unseren Kindern am Anfang ihres Lebens viel Leid ersparen.“ (Dr. Wolfgang Schaller, Kinderarzt)

Bei einer Impfung zum Beispiel. Oder Operation.
Wir neigen dazu unseren Kindern „unnötige Ängste“ zu ersparen, sie zu beschützen und so lange wie möglich „fröhlich“ zu sehen. Was aber bedeutet es für ein Kind, ohne weitere Ankündigung zum Arzt mitzugehen, um dann dort plötzlich einer Nadel entgegenzublicken. Oder schlimmer noch – in ein Krankenhaus zu fahren, ohne wirklich zu wissen, was es dort erwartet?
Egal in welchem Alter – ein Kind ist geschockt. Und verletzt. Es hatte gar keine Zeit, sich seiner Ängste bewusst zu werden. Geschweige denn, diese in irgendeiner Art und Weise zu bearbeiten. Und egal wie sehr wir nun glauben, dass dies der bessere Weg war, des geringsten Widerstandes und der wenigsten Tränen – es wird auf lange Sicht der mühsamste werden. Denn dieses Kind wird das Erleben nicht einfach vergessen und nie wieder darüber reden. Es wird es bewusst oder unbewusst mit sich tragen, im schlimmsten Fall durch dieses Unwissen noch verstärken und verschlimmern. Das sind dann die Ängste im Erwachsenenalter, die uns unerklärlich sind. Warum haben wir Angst vorm Zahnarzt, vor Spritzen oder Injektionen, vor plötzlichen Berührungen, vor großen Räumen, vor langen Gängen… etc. etc.

Es ist nicht ganz überraschend, dass so viele Eltern doch genau diesen Weg wählen. Im Glauben ihre Kinder zu schützen und zu bewahren tun sie in Wirklichkeit nur eins: sich selbst beschützen. Vor der Angst des Kindes und dessen Auseinandersetzung damit. Es ist ihnen nicht zu verdenken. Haben wir doch oft selbst nicht gelernt mit unseren eigenen Ängsten umzugehen. Wer kennt sie nicht, diese „Klassiker“ von „Hat doch gar nicht weh getan!“ bis hin zu „Schau, der Bub hat auch nicht geweint!“

Wenn wir jedoch unser Kind wirklich schützen und in dieses Leben, in dem uns nunmal unweigerlich Unannehmlichkeiten und Ängste begegnen, gestärkt hinauslassen wollen, so ist es sinnvoller, von Anfang an offen und ehrlich mit ihm zu sein.

„Unserer Ansicht nach hintergeht man die Kinder, wenn man sie, ohne es ihnen anzukündigen, überraschen von hinten impft. Es erschwert ihnen zu verstehen, was und warum etwas mit ihnen geschieht. Deshalb verheimlichen wir ihnen weder den Schmerz, noch sein Ausmaß, indem wir ihnen sagen, es tat nur wenig weh. Wir erwarten nicht, dass das Kind mutig und tapfer ist. Wenn es weint, ist dies eine natürliche und angemessen Art, seinen Schmerz und seine Angst auszudrücken. Wir wollen erreichen, dass das Kind durch das unangenehme Erlebnis möglichst wenig erschüttert wird und ihm das Vertrauen zu den Erwachsenen erhalten bleibt. Soweit es an uns liegt, bewahren wir die Kinder auf diese Weise davor, unbewusst in der ständigen Unsicherheit zu leben, dass ihnen unvorhergesehen etwas Schmerzhaftes begegnen könnte.“ (Katalin Tüzes, „Monika wird geimpft“ aus „Im Dialog mit dem Säugling und Kleinkind“, Piklergesellschaft Berlin)

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