Kleine Schwester, große Schwester

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Fast sechs Wochen sind wir nun zu fünft. Versuchen uns im neuen Miteinander. Lassen uns noch treiben von jedem Tag, denn keiner ist wie der andere. Seit einer Woche herrscht wieder Alltag. Die Kinder sind vormittags im Kindergarten. Und ich versuche Stillen, Wickeln und mich selbst irgendwo dazwischen unterzubringen, so dass die Tage gut laufen. Gut genug zumindest. 

Am Anfang war alles entspannt. Miniklein schlief sehr viel zwischen den Stillpausen. Die Kinder waren entzückt und voller Liebe für ihren kleinen Bruder. Schlafmütze nannten sie ihn oft enttäuscht, weil mit ihm so gar nichts anzufangen war. Gaben ihm Bussis, streichelten ihn und wollten ihn halten. und im Grunde wollen sie das auch noch immer, nur nicht mehr so häufig, nicht mehr so euphorisch. Und manchmal nicht mehr so wirklich. Denn so langsam ist durchgesunken, dass Miniklein da ist und bleibt, dass er sehr viel von mir fordert, was dabei an Zeit für sie verloren geht. Vor allem für Frau Klein ist das schwierig. Sie war immer sehr auf mich fixiert, sehr kuschlig. Jetzt muss sie mich sehr viel hergeben. Darüber hat sie sich bisher nicht beschwert. Nicht offensichtlich.

Gestern kam sie von ihrer Freundin heim, ich trug Miniklein am Arm. Sie kam und begrüßte ihn – wie immer recht stürmisch – und sie streichelte seinen Kopf etwas unsanft, so dass mir mal wieder ein „vorsichtig!“ heraus rutschte. Was sie dazu animierte seine Wange entlang zu kratzen, so dass Miniklein aufschrie.

And so it begins, dachte ich mir. Jetzt ist durchgesunken, was hier vor sich geht. Dass Miniklein eine Stellung bezieht, die ihre ins Wanken bringt. Dass sie ihren Platz neu finden muss, sich im Gefüge neu arrangieren muss. Das gefällt ihr nicht. Und ich verstehe das. Hinzu kommt, dass ich durch das viele Stillen und wenige Schlafen nervlich nicht so belastbar bin wie sonst. Ich reagiere schnell über und das ist sie in der Art nicht gewohnt. Wenn Miniklein schläft oder zufrieden auf dem Sofa liegt, möchte ich am liebsten ganz allein für mich sein, genießen, dass niemand meinen Körper belagert. Doch genau dann will sie mich. Ganz schnell alles von mir, was geht. Oft gebe ich, doch manchmal ist es mir zu viel.

Ich erinnere mich gut an diese Zeit, als sie geboren war und Herr Klein genau so reagierte. Ich verzweifelt und entnervt war und planlos, was ich tun soll. Heute sehe ich das zum Glück etwas gelassener. Ich weiß, dass Miniklein nicht umkommt von einem Kratzer im Gesicht. Und ich weiß, dass er keine Bösartigkeit in dem Sinne ist, sondern die pure Verzweiflung und Trauer, die aus ihr spricht. Es ist ihre Art ihren Unmut zu äußern. und so kann ich nur immer wieder versuchen zu erkennen, was genau sie in der Situation wirklich stört. „Es ärgert Dich, dass ich Miniklein schon wieder am Arm habe, Du möchtest, dass ich jetzt Zeit für Dich habe.“ Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel diese Sätze des Verstehens ermöglichen. Manchmal fällt sie mir um den Hals. Manchmal kullern noch ein paar Tränen und sie kuschelt sich an mich. Und dann kommt die Leichtigkeit zurück. Sie kehrt zurück zu ihrem Spiel oder ihrem Tun. Sie fühlt sich verstanden und akzeptiert. Für den Moment. Und sie kann weiter daran arbeiten sich hier in der neuen Situation zurechtzufinden.

Schimpfen und Strafen würden hier vieles noch verschlimmern. Zu verstehen, dass die Kinder da aus Verzweiflung handeln, weil ihnen die Worte fehlen für das, was in ihnen vorgeht. Weil es zu viele Emotionen aufkommen, die sie nicht begreifen können. Weil alles so neu ist, wie es auch für das Baby ist und für uns selbst. Da hilft ihnen eine stumme Umarmung mehr, als Zurechtweisung. Auch wenn es nicht immer leicht ist. Auch wenn ich Miniklein nun doch etwas mehr „bewache“ und ein Auge auf Frau Klein habe, wenn sie ihm nahe kommt.

Und letztendlich möchte auch ich mich manchmal hier hinstellen und laut schreien und auf irgendetwas einschlagen um meinem Frust und meiner eigenen Trauer Platz zu machen. Denn auch mir fehlen die Großen, auch mir fehlt die Zeit mit jedem einzelnen. Mir fehlt die Routine, die ich gerade hatte, die Zeit für mich und die Gespräche mit dem Liepsten. Mich nervt es wie ToDos von einem Tag auf den nächsten auf die nächste Woche und immer weiter verschoben werden. Und dass es noch dauern wird, bis hier alles wieder auf ruhiger See dahin schifft. Ich weiß, dass meine Erwartungen zu hoch sind, ich weiß, dass es Zeit braucht und alles wieder wird. Besser, ruhiger, entspannter. Sie weiß das nicht und es macht ihr Angst hier so im Nichts zu schwimmen.

Sie ist nun kleine Schwester und große Schwester. Und genau so geht es ihr. Sie ist nicht mehr die Kleinste, aber noch längst nicht groß. Ist in einem Dazwischen. Doch irgendwann wird sie daraus auftauchen und begreifen, dass sie nun einen großen und einen kleinen Bruder hat. Und viele, unendlich viele aufregende und wundervolle Momente als kleine und große Schwester auf sie warten. Wenn ich sie und Herrn Klein erlebe, wie sie miteinander und aneinander zusammengewachsen sind zu einer liebevollen, kichernden, lustigen, wilden und natürlich auch explosionsartigen Einheit – dann freue ich mich mit ihnen auf das, was sie da erwartet. Und für mich darauf das begleiten und miterleben zu dürfen.

rp_Bildschirmfoto-2015-09-03-um-10.40.53-224x300.pngMehr zum Thema Geschwisterbeziehungen könnt Ihr in meinem Buch „Hand in Hand – Geschwisterbeziehungen verstehen und begleiten“ lesen.

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. elisabeth

    liebe Nadine, danke für diese schönen Zeilen, und fürs Teilhaben-Lassen – mir scheint als würdest du über uns schreiben – genau so war es bei uns vor zweieinhalb Jahren! Ich komm aus dem Nicken nicht raus, und bin gerührt über deine Worte, und v.a. dein Verständnis für Frau Klein… und ja, ich kann mich auch soo gut erinnern an diese Sehnsucht nach Zeit für mich selbst und meinen Körper… und der Sehnsucht nach der schon gehabten Freiheit, und der Zeit mit den großen Kindern und meinem Liebsten… Spannend, wie viele Parallelen ich da seh :-) und das schöne ist – es kommt alles wieder, es wird leichter, es wird noch schöner (das wird’s immer, mit Kindern, kommt mir vor), es ist brutal anstrengend… aber so lohnend! Und, unsere Madame kann es inzwischen sehr genießen, große und kleine Schwester von ihren Brüdern zu sein :-) Alles alles Liebe Euch!

    1. buntraum

      Liebe Elisabeth, vielen Dank. Das zu lesen baut mich gerade sehr auf. Obwohl ich ja weiß, dass alles einfacher und besser wird. Aber manchmal geht man halt am Stock und fragt sich… Vielen lieben dank, auch fürs treue mitlesen!

  2. FrauMoehre

    Ich kann nur zustimmend nicken und ich schicke dir Kraft für all die kommenden Situationen und bitte denke daran, dass Du perfekt für deine Kinder bist.
    Mit all deinen Schwächen UND Stärken. Sie brauchen dich so, wie Du bist und Du brauchst sie so, wie sie sind, mit ihren Schwächen UND Stärken.
    Deine Ehrlichkeit weiß ich sehr zu schätzen, begegnet sie mir doch so selten im echten Leben und lässt mich oft an mir selber zweifeln. Zu schade ist das.
    Umso schöner zu merken, dass ich nun, dank meiner Kinder, an einem Punkt bin, an dem ich mich bewusst für und gegen Bekanntschaften und Freundschaften entscheide.

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