Ritalin – Wenn Kinder nicht in die Norm passen?

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Gerade sah ich auf 3sat die Sendung „Ritalin – Medizin die krank macht?“ Und jetzt bin ich geschockt. Geschockt und besorgt. Was passiert da gerade mit unserer Gesellschaft?

Eine Reihe an Menschen und Familien wurden vorgestellt in der Sendung. Allesamt mit der Diagnose ADHS und entsprechender Ritalingabe konfrontiert. Doch die Begründungen, die vermeintlichen Diagnosestellungen, haben mich wirklich beunruhigt. Die meisten Eltern sprachen über ihre „hyperaktiven Kindern“ und berichteten von Schulproblemen, von dem Unwillen Hausaufgaben zu machen, von Herumkasperei, vom Nichtstillsitzenkönnen, vom Nichtbefolgen und Nichtgehorchen. Von der vorbeiziehenden Biene, die das Kind von den Hausaufgaben ablenke… Und ich dachte an mich. Wie ich in der Schule am liebsten am Fenster saß, um Ablenkung zu haben. Wie ich Hausaufgaben prokrastinierte. Verträumt war ich. Und konzentriert nur auf das, was mich interessierte. Normal nenne ich das. Problematisch nennen es viele Eltern.
Fakt ist: kein einziger Fall in dieser Dokumentation hat mich überzeugt, dass von einer ernsthaften mentalen Erkrankung die Rede sei. Alle schienen mir vorübergehend beeinträchtigt, womöglich durch weitreichende Gründe, oder zu subjektiv betrachtet.

Natürlich ist es schwierig, wenn ein Kind so gar nicht zur Ruhe kommt, sich auf nichts konzentrieren kann, nie bei einer Sache bleiben kann, ständig „Hummeln im Hintern“ hat. Aber wenn ich höre „Der Arzt hat das Kind 10min beobachtet, gelächelt und die Diagnose gestellt“, wird mir schlecht. Denn wenn Herr Klein übermüdet ist, könnte man ihm die Diagnose ebenso anheften. Regelmäßig. Herr Klein hat in der Tat auch oft Konzentrationsschwächen. Es fiel ihm schwer sich auf eine Sache einzulassen, dabei zu bleiben, eine Handlung von Anfang bis Ende auszuführen. Wir haben alle damit gekämpft. Und gelernt, dass die Gründe dafür vielfältig und komplex sind. Und nicht allein in ihm schlummern, sondern auch in uns. In unserem Verhalten. In unserer Klarheit und Konsequenz.

Das Problem ist aber nicht die Diagnose selbst, sondern die Art und Weise, wie ein „Experte“ dazu kommt. Ich will nicht diskutieren, ob ADHS existiert oder nicht. Ich finde es nur äußerst bedenklich, dass es so schnell diagnostiziert wird. Dass immer mehr Kinder damit abgestempelt werden (in 5 Jahren um mehr als 40 %) und ihren Schulalltag mit Medikamenten bestreiten.

Wer hinterfragt hier eigentlich, ob diese Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefizite nicht andere Gründe haben? Wer betrachtet hier wer wirklich mit dem Verhalten des Kindes ein Problem hat? Das Kind selbst oder eher die Lehrer und Eltern?

Im DSMIV – dem Diagnostikhandbuch für mentale Krankheiten schlechthin wurde aus der einstigen Hyperaktivität eine Aufmerksamkeitsstörung gemacht. Somit konnten viel mehr Menschen mit ADHS diagnostiziert werden. Aber hinterfragt hier jemand, woher diese Aufmerksamkeitsstörung außerdem rühren kann? Im Zeitalter von Medienkonsum bei unter 2-jährigen. Wo Kindergärten bei Schlechtwetter die Kinder nur drinnen beschäftigen. Wo bereits Klein- und Kleinstkinder dem Förderwahn unterliegen, von Anfang an unterhalten und „belehrt“ werden, um alle Kanäle zu aktivieren. Wo Kinder nicht mehr allein und ihrer Langeweile ausgesetzt sind….

Wenn ich mich damit befasse, was mit einem 7-jährigen körperlich passiert, was in seiner Entwicklung geschieht, dann muss ich einen „schwierigen Schulstart“ nicht mit Ritalin bekämpfen. Dann kann ich mein Kind beobachten und darf nebenbei vielleicht auch das Schulsystem anzweifeln.

Ein 19-jähriger, der von 7-15 Ritalin eingenommen hat, erzählte im Interview, wie ihn das beeinträchtigt hat. Wie er dann endlich Wege gefunden hat, mit seinem Energieüberschuss und seiner Konzentrationsstörung umzugehen. Und ich möchte Hurra schreien und ihn bitten, das in die Welt hinaus zu posaunen. Weil auch ich glaube, dass viel mehr Kinder viel mehr, viel wertvollere Unterstützung brauchen, als die Gabe einer Pille und dem Gefühl: Mit Dir stimmt was nicht!
Sie brauchen Eltern, die Unterstützung bekommen, brauchen Menschen, die in ihnen Ihre Potenziale sehen und sie entfalten lassen, anstatt stets und ständig die Defizite zu betonen. Sie brauchen Ärzte, die sie längerfristig und ganzheitlicher betrachten und sie brauchen Möglichkeiten, um alle Sinne zu aktivieren und bewusst schalten zu können.

Nur dann kann es möglich sein zu erkennen, welches Kind wirklich beeinträchtigt und krank ist und welches „nur“ nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht. Welches Kind nicht für sich ein Problem darstellt, sondern wer mit dem Kind so ein Problem hat! Und letztendlich gilt das nicht nur für ADHS, sondern für jegliche Formen von „Verhaltensauffälligkeiten“.

Erzählt mir doch von Euren Erfahrungen mit ADHS. Kennt Ihr Menschen oder habt Ihr Kinder, die es diagnostiziert bekommen haben? Wie äußert es sich da, wie geht es Euch oder ihnen damit? Wie wird es behandelt? Ich möchte etwas mehr erfahren und wenn möglich mehr verstehen, denn bisher spüre ich eine große Sorge über die gesellschaftliche Entwicklung hinsichtlich unserer Menschlichkeit.

Dieser Beitrag hat 20 Kommentare

  1. Obst

    Ich kenne zwei Personen, die sich als Erwachsene selbst diagnostiziert haben (wenn man das so nennen kann) und mir berichteten von ihrer Selbsttherapie: Die würden Dir total zustimmen. Für beide ging es darum sich selbst so gut zu kennen, sich selbst die Aktivitäten zu suchen etc um durch Schule und Studium zu kommen.
    Ein Familienmitglied von mir hat die Diagnose (inklusive Ritalingabe) nach einem Jahr (eigentlich Jahren) massiver Probleme bekommen, die sich nicht nur auf Rumhopsen und wilde Gedankengänge beschränkten. Ohne Ritalin mag sie sich selbst nicht, weil sie Dinge tut und sagt, die sie sonst nicht tun würde. Trotzdem mach ich mir Sorgen zb über ihren Wachstum.
    Das sind also meine Erfahrungen und Bezüge zu dem Thema. Schade dass in der Doku anscheinend nur ‚zu schnell‘ diagnostizierte Menschen vorkamen. Das könnte die Kritik an Ritalin in der Doku ausgewogener machen.

  2. juwel

    Kann ich vollkommen zustimmen. Aus beruflichen Gründen weiß ich, dass viele Eltern diese „Diagnose“ stellen lassen, um ihrem Kind Vorteile einzuräumen oder dafür zu sorgen, dass es Sonderbehandlung und dadurch Aufmerksamkeit bekommt. Jedoch seh ich es auch so, dass es viele andere Möglichkeiten gibt, damit umzugehen, dass es eben auch vollkommen normal ist, dass sich Kinder und auch Jugendliche nicht einen Vormittag lang konzentrieren können…
    Wobei ich auch dazu sagen muss, dass ich auch welche kenn, bei denen ADHS festgestellt wurde (also tatsächlich zuverlässig diagnostiziert und nicht, weil Eltern das so wollten), das Kind aber kein Ritalin bekommt, sondern bewusst versucht wird, damit anders umzugehen – beispielsweise durch Bewegungspausen, durch bewusstes An-die-frische-Luft schicken und und und… Es geht also auch bei Diagnose ohne….

  3. Gabi

    Aus meinem beruflichen Umfeld kann ich berichten, dass eine große Unsicherheit unter den Eltern herrscht bez. dessen, was ADHS denn nun ausmacht oder nicht. Eine große Angst, nicht frühestmöglich dagegen vorgegangen zu sein und bestimmt auch die Hoffnung, ein anstrengendes, nicht in die Rolle zu pressendes Kind würde bitteschön einfacher zu handhaben werden….

    Es gibt die Fälle, wo Ritalin sicherlich ein Segen ist. Das sind aber eher Wenige! Ein Kind, das so „wild im Kopf“ ist, dass es unwahrscheinlich darunter leidet und all seine Begabungen brach liegen, weil Konzentration überhaupt nicht möglich ist, wird nach einer Zeit der Feineinstellung plötzlich ruhig und kann zum ersten Mal im Leben richtig am Schul- und sonstigen Alltag teilnehmen….
    Die Diagnose ADHS wurde hier aber nicht mal eben so lapidar von einem Arzt gestellt, sondern mehrere Fachleute blickten zusammen eine längere Zeit auf das Kind und kamen zu dem Schluss. Hier war die Vergabe ein Segen.

    Aus der Erfahrung heraus kann ich sagen, dass eine Entscheidung zur Medikamentenvergabe zumindest hier vor Ort nicht mal so eben getroffen wird. Man weiß um die verschiedenen Verhaltensmuster der Kinder, und dass der Trend zu mehr Auffälligkeiten geht, ist auch bekannt. Soweit ich es anhand der bekannten Fälle beurteilen kann, erfolgt eine „mal eben schnelle“ Pillenvergabe nicht. Gott sei dank.
    L.G. Gabi

  4. Anne

    Puh ja – ADHS… Ich kenne niemandem, bei dem das diagnostiziert wurde, aber dennoch schwebt dieses Schreckensgespenst über jedre jungen Mutter/ über allen jungen Eltern: was, wenn mein Kind jetzt nicht still sitzt? Hach, der kann sich schon wieder nicht auf was konzentrieren… Der hat bestimmt ADHS. Grausam. Unser Minimonsieur ist auch ein sehr lebhaftes Kind und es bringt mich manchmal zum Verzweifeln, weil er ständig in Bewegung ist – auch wenn ich mal ausruhen möchte. Aber dann passiert sowas wie neulich: vor einer geplanten OP sollten wir ihm einen Beruhigungssaft geben – ich habe abgelehnt: 1. weil ich die Nebenwirkungen nicht gut fand und 2. weil der kleine Mann ganz ruhig war. Wir hatten ihm alles erklärt, er wußte, was auf ihn zukommt… und wir haben andere Arten der Beruhigung gefunden (Schnuller, Buch lesen und vor allem: auch ich war ganz ruhig und habe mich intensiv und ruhig mit ihm beschäftigt). Deswegen bin ich der Meinung: in einen zappeligen Kind steckt auch ganz viel Unruhe und Ungeduld der Eltern. Und zappelig heißt nicht gleich ADHS – aber es ist halt einfach zu sagen: ja, die Krankheit heißt soundso, dann haben die Leute was in der Hand!

  5. Dass MPHs einfach mal so nach 10 Minuten „wie Smarties“ verteilt werden, halte ich für ein Gerücht. Ich kenne nur Fälle, bei denen die Kinder und ihre Familien einen manchmal jahrelangen Leidensweg hinter sich haben, bis endlich die richtige Diagnose gestellt und die Krankheit entsprechend medikamentös behandelt wurde.
    ADHS ist eine Wahrnehmungsstörung, die übrigens im Kernspin sichtbar ist, und die nicht nur das betroffene Kind sondern die gesamte Familie belastet. Den Eltern vorzuwerfen, sie würden ihr „lebendiges“ Kind „ruhig stellen“ hilft niemandem weiter, insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass sie meisten von ihnen vor ihrer Einwilligung zu MPH zig andere Therapien und Behandlungsmöglichkeiten ausprobiert haben und damit gescheitert sind.
    Ich kenne mehrere Kinder, denen die Gabe von MPH überhaupt erst ermöglicht, einer kognitiven Verhaltenstherapie o.ä. zu folgen! Zwischen „ein Bisschen verträumt“ oder „etwas zappelig“ und einem ADHS liegen Lichtjahre!
    Und ja, die Behinderung gehört zur Diagnosestellung ausgiebig medizinisch, psychiatrisch und neurologisch abgeklärt, weil es tatsächlich zahlreiche andere Gründe gibt, die ein ähnliches Verhalten hervorrufen können.
    Ich habe im letzten Herbst einen Artikel dazu geschrieben, der den aktuellen Stand der Forschung zusammenfasst: http://lokalo24.de/familie/adhs-individuelle-therapien-statt-pillen-fuer-alle/4178/

  6. Simone

    Ich bin ganz deiner Meinung! Für mich persönlich wird auch zu schnell ADHS diagnostiziert. Mein Jüngster kann auch nicht sehr lange stillsitzen, lässt sich sehr leicht ablenken bei Aufgaben, „gehorcht“ (O_o) fallweise kaum bis gar nicht – ist aber nicht permanent so. Jo mei! Nicht jeder kann in das, von Experten und der Gesellschaft erstellte Perfektbild passen – jeder ist gut so wie er ist. Er ist unglaublich hilfsbereit, bringt andere gerne zum Lachen, ist sehr gut in der Schule (obwohl er gerne tratscht und von einem Kollegen zum Anderen läuft um zu helfen), verbringt gerne seine Zeit mit unseren Hunden und Hühnern. Was ist daran schlechter als bei anderen Kindern. Er ist 8 Jahre alt und hat noch viele tolle Dinge zu erleben – ich werde ihn nicht daran hindern.

  7. Simone

    *Nachtrag: Ich persönlich glaube, dass es an der schnelllebigen Zeit liegt, dass so viele Kinder „auffälliger“ sind als noch vor ein paar Jahren. Beide Eltern meistens berufstätig, kaum Zeit um selbst zu verschnaufen und dann noch sich ausgiebig mit seinem Nachwuchs zu beschäftigen – man setzt vielleicht die Kinder dann lieber vor den Fernseher, um selbst mal runter zu kommen oder Haushalt zu erledigen. Jeder tut sein Bestes, aber eine unaufgeräumte Wohnung/Haus anzutreffen als Besucher? Geht nicht!! Dann lieber schnell Arbeit erledigen als mit dem Kind nach draußen zu gehen.

  8. Mone

    mein Sohn hat ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ohne Hyperaktivität). Dies wurde erst mit 18 Jahren erkannt. Bis da hatten wir eine Odysee durch Schulen und Ärtze hinter uns. Mit 20 hatte er eine ausgewachsene Psychose getriggert durch Drogenmissbrauch. Inzwischen ist er fast 25, besucht eine Schule und versucht er eine Abschluss zu machen. Regelmässig gerät mit dem Gesetz in Konflikt. Der Umgang mit ihm ist/war anstregend und es erschöpft mich.Ich hätte mir gewünscht, das ADS wäre früher erkannt worden und eine Behandlung mit Ritalin und das Verständnis der Umwelt durch Aufklärung über ADS hätte seinen/unseren Weg weniger schwer gemacht.

  9. Maria

    Ich fragte einmal in der Ergotherapie nach, wo ich mit meinem 9-monatigen Sohn hinging, ob er ADHS haben oder bekommen könnte. Ich machte mir damals echt Sorgen. Die Therapeutin meinte, er hätte Anzeichen, weil er sich nicht lange auf eine Sache konzentrieren kann, nicht durchschläft, unruhig ist… Ich las mich ein wenig in die Materie ein. Nach einigen Sitzungen brach ich die Therapie ab, weil es totaler Schwachsinn war. Ich sollte zum Beispiel das Schlaftraining nach Ferber machen. Jetzt, 3 Monate später ist er ein ausgeglichenes Kind. Schläft seit Weihnachten durch, von ganz alleine, läuft und spielt auch schon ziemlich lange alleine. Wir glauben, er hat einfach nur großen Bewegungsdrang, so wie sein Papa als Kind auch schon. Ich glaube ja, das viele Therapeuten einfach nur therapieren wollen, schließlich leben sie davon. Das ist doch schon eine schlechte Voraussetzung. Normalerweise hätte sie uns nach Hause schicken sollen nach den ersten sechs Sitzungen. Aber sie hat weitere zehn bei der Ärztin beantragt. So werden Eltern schon von Anfang an verunsicher, obwohl man ADHS frfrühestens im Schulalter diagnostizieren kann.

  10. Dunja Herrmann

    Danke für diesen reflektierten Beitrag! Ich habe zwei Mütter erlebt in meinem Umfeld, die sich nicht haben einreden lassen, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt. Er ist zu langsam? Na, und! Sie kann sich nicht konzentrieren? Muss man das in dem Alter von 7 schon von morgens früh bis nachmittags? Dennoch leiden diese Eltern wie viele andere auch, wenn es eben nicht so läuft wie bei den Vorzeigekindern in Kita oder Schule.
    Wir fragen uns: Was ist los? Was kann ich als Mutter oder Vater tun? Und was kann ich von der Erzieherin oder Lehrerin erwarten, inwieweit kann sie mich unterstützen? (Männer natürlich eingeschlossen, nur gibt es die eher selten an Kindergärten und Schulen)
    Neulich erzählte mir jemand die Geschichte eines Kindes, das andere ständig bespuckte. Als es zur Aussprache mit den Eltern und dem Lehrer kam, wurde die Mutter des spuckenden Kindes so wütend, dass sie eine andere Mutter bespuckte … Das alles liegt schon 20 Jahre zurück, zeigt aber sehr schön, dass sogenannte Probleme nicht eindimensional betrachtet werden können, sondern immer eingebettet sind in ein (familiäres oder sonstiges) System.

  11. betroffene mutter

    ich misch mich jetzt auch in die debatte ein. wisst ihr, was das grösste problem ist an der ganzen geschichte, wenn man ein kind hat, dem in aufwendigen untersuchungen adhs diagnostiziert wurde und das mit ritalin ein massiv besseres leben führen kann? leute, die meinen, adhs gäbe es gar nicht und statt ritalin könne man es auch homöopathisch versuchen. oder eben: auf das kind eingehen, sich mit ihm beschäftigen, es ernst nehmen.

    schon mal daran gedacht, dass auch einer mutter irgendwann die energie ausgeht? dass man gewisse dinge nicht ändern kann, weil das hirn eines adhs-kindes nicht so ausgereift ist wie das eines «normalen» kindes? dass das kind ein aussenseiter ist und keine freunde hat, weil es wirklich nicht in die norm passt? dass das kind dauernd negative feedbacks bekommt, weil es sich halt wirklich anders verhaltet als andere? dass auch die geschwister darunter leiden, wenn das kind heimkommt und ab diesem zeitpunkt die 300prozentige aufmerksamkeit sucht und will? und das sind ja nur ein paar facetten der ganzen leidensgeschichte.

    ich sag euch eins: für unser kind und unsere ganze familie ist ritalin ein segen. und dazu stehe ich.

    1. Nadja

      Danke für deins Statement. Sowas kann man nur als „betroffener“ verstehen. Man muss noch dazu sagen, es ist kein Wundermittel. Es ist kein anderes Kind, nur die Häufigkeit oder Intensität ist zeitweise geringer.

  12. Mi

    Als Kinder-und Jugendpsychotherapeutin habe ich natürlich ganz andere Erfahrungen gemacht. Es mag sicher schwarze Schafe geben, aber es gibt klare Leitlinien für die Diagnose einer ADHS. Eine ausführliche und saubere Diagnostik erfordert viel Zeit und Mühe. Ich persönlich habe kein einziges Elternteil gesehen, dem es leicht gefallen ist, seinem Kind Ritalin oder ähnliches zu geben. Vielmehr habe ich Eltern erlebt, die trotz aller liebevollen Bemühungen tagtäglich für ihre Kinder über ihre Grenzen gehen. Familien die am anstrengenden Kind zu zerbrechen drohen. Und Kinder die schon in der Grundschule in einem Teufelskreis aus Misserfolgen stecken.
    Hier kann Ritalin ein Segen sein. Der die gesamte Familie entlastet und dem Kind oft erstmals Erfolge ermöglicht und es oft auch aus der Sündenbockfalle befreit.
    Und entgegen sämtlichen Klischees, die in den Medien leider oft vertreten sind, trifft ADHS nicht nur Kinder aus „bildungsfernen“ Familien, die ihre Kinder städnig vor dem TV parken undundund. Sondern es handelt sich, wie Katharina in einem Kommentar schon geschrieben hat- um eine Wahrnehmungsstörung, eine Störung im zentralen Nervensystem, die vor allem genetisch bedingt ist.

  13. Claudia

    Ja, es gab eine Zeit in der sehr schnell Ritalin verschrieben worden ist da der HA das auch durfte. Dies ist inzwischen nicht mehr möglich daher ist das mit dem, „Werden verschrieben wie Gummibärchen “ so nicht mehr richtig. Da hat sich in den letzten Jahren auch einiges gewandelt

    Wenn du das wie bei uns über eine psychiatrische Einrichtung machst die darauf spezialisiert ist, die Schule einbindest und auch die befragst die sonst mit dem Kind zu tun haben kommt da eine ziemlich sichere Diagnose raus. Defakto musste die Schule über 4 Wochen täglich einen Fragebogen ausfüllen der klare Fragen stellte. Da ging es um die Abfrage von sich immer wiederholenden Situationen und die Verhaltensweisen die das Kind dabei an den Tag legt. Den füllen auch die Eltern aus und es gabt eine abgespeckte Version damals für Menschen wie den Sportverein der seine Wahrnehmung der Dinge ankreuzen konnte. Danach konnte selbst jeder Laie erkennen wo die Schwachstellen waren.

    Die Diagnose stellen durfte man damals erst bei Kindern ab 6 Jahren. Vorher war es ein Verdacht. Bei ihr war, aufgrund anderer Thematiken schon mit 5 Jahren klar das es eine mehr oder weniger gesichterte Diagnose war.
    Es ist dann später noch mal nachgetestet worden inklusive eines Hawik 4 um die endgültige Bestätigung zu haben.
    Uns haben damals alle bestätigt das Maus ein hoch gefördertes Kind ist das ihre Situation angepasst erzogen wird. Das wir alles richtig gemacht haben, aber das das nicht ausreicht bei dem Krankheitsbild.

    Mein Kind ist heute 13. Geht seit seinem 6 Lebensjahr zu verschiedenen, auf die Altersstufen abgestimmten. Therapien. Das fing an mit Ergotherapie an und wird heute mit Psycho- und Musiktherapie weitergeführt. Dazwischen gab es noch andere Ansätze.
    Sie bekommt seit ihrem 6. Lebensjahr zusätzlich Ritalin weil das Kind mit 6 Jahren sowohl eine Depression hatte als auch Tendenzen zeigte das eigene Leben nicht mehr lebenswert zu finden. Es gab Überlegungen das sie teilstationär in der Kinderpsychatrie aufgenommen werden sollte um noch größere Schäden zu vermeiden.
    Als wir uns damals dazu entschieden haben es mit Ritalin zu probieren taten wir das mit dem Gedanken, wir schauen was es mit dem Kind macht.

    Nach vier Wochen konnten wir ein Fazit ziehen. Für uns alle aber vor allem für das Kind war Ritalin die Rettung. Ich kann es nicht anders sagen.
    Ich sehe noch heute die Therapeutin vor mir, der die Tränen runterliefen als sie das Kind zum ersten mal in einen Stuhl sitzend erlebte und auf die Frage, und wie geht es dir sagte: Weist du, die Kinder spielen jetzt manchmal mit mir und das ist toll.

    Ritalin ist kein Wundermittel. Es macht dem Kind nur möglich am täglichen Leben teilzunehmen. Es macht ihr möglich eine Schule zu besuchen und Wissen anzusammeln. Sie kann ihren Hobbys nachgehen und ihrer Leidenschaft, dem Lesen, nachgehen. Das alles könnte sie ohne das Mittel nicht.
    Das Kind besucht zum Beispiel nur eine Realschule obwohl das Abitur kein Problem wäre von den Leistungsmöglichkeiten und sie dies unbedingt machen will. Der Berufswunsch Architektur zu studieren begleitet se schon ein paar Jahre und dies ist ihr Ziel.. Tatsächlich würde dieser Leistungsdruck dort aber eine wesentlich höherer Dosis von Ritalin bedeuten.
    Dies war nie eine Option, nicht fürs Kind, nicht für uns und nicht für die Psychologin.

    Maus hat sehr schnell gemerkt das ihr dieses Mittel jede Phantasie nimmt, das es sie unkreativ werden lässt daher gab es immer eine klare Ansage.
    Das Ritalin ist nötig um die Schule zu besuchen und da wird es genommen.
    Es ist ein Mittel das man sehr genau dosieren und sehr gezielt und punktuell einsetzen kann.
    Es gab in der Regel: keine Einnahme am WE,
    nicht in den Ferien
    und nicht damit sie für irgend wen einen angepassten Eindruck macht. Das war und ist uns egal.

    Sie selber hat vor gut einem Jahr mit ihrer Therapeutin besprochen das ihr der Umgang mit anderen Menschen extrem mehr Schwierigkeiten ohne Ritalin macht und das sie das doof findet. Die Freundinnen können kaum damit umgehen wenn Sie ist wie sie ist ( sie hat überhaupt kein Gefühl für Nähe und Distanz und das haben auch die Therapien nicht verändert. Es ist und bleibt ihre große Baustelle) . Das hat dazu geführt das sie jetzt am WE die halbe Dosis nimmt. Für sie ist das im Moment noch eine gute Lösung sagt aber auch inzwischen das sie es eigentlich gar nicht mehr möchte. Wir werden sehen was die Zeit bringt.

    Eines noch weil es mich seit vielen Jahren begeleitet. Ich bin, als Maus 5,5 Jahre alt war von einem mir befreundeten Vater gefragt worden wie ich es schaffe „so“ ein Kind zu lieben. Ich war damals sprachlos da ich mein Kind nur durch meine Brille gesehen. Zwar war mir schon klar war das es anders ist wie andere. Das es so extrem ist das Menschen sie nicht mehr Liebenswert finden fand ich damals völlig erschreckend und es hat mich wirklich sprachlos gemacht. Das hat mir aber auch gezeigt das wir schauen müssen was mit dem Kind ist. So Schlimm wie das damals für mich war, so froh bin ich wie gut es uns heute allen geht.
    Claudia

  14. Christiane

    Ich glaube das es ist wichtig das Eltern sich nicht verunsichern lassen und das ist garnicht leicht. Ich bin Erzieherin und habe auch schon den Fragebogen in der Hand gehabt nach dem der Hausarzt feststellen wollte ob das Kind ADHS hat. Danach hätten fast alle Kinder meiner Gruppe ADHS. …. Und ich und meine Kolleginnen auch. Es gibt sicher Kinder und Familien denen Ritalin hilft und dann ist das gut so, aber ich glaube auch das viele Kitas und Schulen ihre Konzepte überdenken müssen. Denn wir brauchen keine funktionierenden Kinder die still sitzen und brav alles lernen was im Bildungsplan steht. Diese Zeiten sind vorbei. Kinder sollen sich bewegen und Freude am Lernen und Leben in der Kita/ Schule haben und dazu brauchen sie Erwachsene die sie wirklich sehen und sie da abholen wo sie stehen.

  15. betroffene mutter

    liebe claudia, du sprichst mir aus dem herzen. mich nervt wirklich, dass aus der omnipräsenz des themas heute jeder eine meinung hat – und keine ahnung um was es dabei geht. was ich mir schon alles anhören musste, geht unter keine kuhhaut und waren teilweise massive eingriffe in die privatsphäre. wie oft schon der böse zucker das problem war!!!! oder zuwenig aufopferung. oder bewegung. oder oder oder.

    ich sehe bei meinem mann, wo die diagnose erst als erwachsener gestellt wurde, was eine nichtbehandlung für auswirkungen haben kann – mal auf die defizitseite orientiert. das will ich unserem kind ersparen.

    gleichwohl haben sowohl mann als auch kind unglaubliche ressourcen, sind phantasievoll, lustig, etc. unserem kind wurde in dem sinne nichts genommen, es kann sich, einfach gesagt, einfach adäquater verhalten. es ist immer noch quicklebendig und phantasievoll.

    ich könnte stundenlang referieren. aber ich bin immer froh, wenn ich auf „mitleidensgenossen/-innen“ treffe. drum: danke für die posts.

  16. andrea

    danke für den artikel und für die vielen kommentare. beides hat mich sehr bereichert.

  17. Birgit

    Schwieriges Thema – dabei fühlen sich Betroffene sehr schnell verletzt und abgeurteilt. Fakt ist, dass immer mehr Eltern selbst nervlich stark belastet sind. Viele Eltern können sich dem stetig steigenden Leistungsdruck in der eigenen Arbeit kaum erwehren und geben den Druck, gepaart mit massiven Zukunftsängsten an die Kinder weiter. Die Kinder können sich dieser Belastungen kaum erwehren, außerdem sind sie mit der starken Präsenz von Medien eh schon extrem gestresst.

    Und jetzt sag mal solchen Familien, dass Ritalin evtl der falsche Weg ist,…

    Kinder brauchen
    – Freiräume (ohne ‚wohlmeinende‘ elterliche Kontrolle)
    – gelassene Eltern, die guten Mutes in die Zukunft blicken
    – Schulen, die sie fordern, aber auch kein Drama machen, wenn die Leistungen nicht so toll sind
    – Familien, die Zeit haben, in denen nicht Termin auf Termin folgt
    – Eltern, die noch andere Lebensinhalte und -ziele haben als die eigenen Kinder

    … meine ganz persönlichen Erkenntnisse nach 20 Jahren Muttersein und 20 Jahren Arbeit im sonderpädagogischen Arbeitsfeld

    1. betroffene mutter

      meine erfahrung als betroffene mutter: genau das alles stellen wir unseren kindern zur verfügung. sie haben draussen maximalste freiheiten, für die schule war das kind ohne ritalin kein problem, aber was die terminfreie zeit angeht, muss ich dir widersprechen. für das eine kind von uns ist terminfreie zeit die hölle, und zwar weil ihm dann die struktur fehlt, es keinen halt hat. einfach um der inneren unruhe leitplanken zu geben. wir halten es so, dass an einem tag des we alle zuhause sind. mittlerweile geht es gut, aber nicht immer. ausserdem, was auch da reinspielt: sport hilft auch. sind aber auch termine. drum – so einfach lässt sich das nicht sagen. am besten ist routine. und pläne.

      aber ich sehe schon, dass es offenbar fälle gibt, wo wegen unruhiger kinder gern auf ritalin zurückgegriffen wird, obwohl es anders auch lösbar wäre. das ist bei uns leider nicht der fall.

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