Nebeltanz – Eine Geschichte vom Loslassen

Das erste Kapitel meines Wegbegleiters handelt vom Loslassen. Denn wenn wir es schaffen loszulassen, uns von alten Lasten, Ängsten, zu hohen Erwartungen und all den Dingen zu befreien, dann können wir auch ganz neu, ganz frei und leicht auf neue Dinge zugehen, können neue Schritte und Abenteuer wagen. Wir können gelassener sein und genau das braucht es ja so oft im Leben. Nicht nur mit Kindern.

Am Sonntag hatten wir wieder Schreibabend. Der Leiter dieser Abende bringt uns immer einen Impuls mit zu dem wir dann etwas schreiben. Eine Geschichte, Gedankenfragmente, Gedichte… was auch immer. Dieses Mal trat er herein und sagte: „Heute habe ich etwas schönes für Euch dabei.“ Wir lächelten. Ich atmete auf, denn oft schreibe ich so schwer und düster, dass ich mich selbst wundere, wo das her kommt. „Das Thema Freundschaft“ sprach er lächelnd und zufrieden. Und ich seufzte. Freundschaften. Für mich ein sehr schwieriges Thema. Sie zu halten, zu beginnen, ziehen zu lassen… es ist auf vielen Ebenen nicht leicht. Zumal ich doch sehr gern allein bin, aber wiederum Freunde im Leben brauche.

Und dann ließ ich mich treiben von ein paar Gedanken und plötzlich fegte der Stift übers Papier und am Ende entstand eine Geschichte, die ich doch sehr mag. Und die mich sehr ausgesöhnt hat mit dem Ende einer alten Freundschaft.

Und weil sie eben so zum Thema Loslassen passt, möchte ich sie heute mit Euch teilen.

Ballon

Nebeltanz

Sie saß auf einer Bank und die Bank stand am Rande eines Teiches, über dem weichgrauer Dunst die Sicht verklärte. Es war kühl, in den leeren Ästen der Bäume hinter ihr, neben ihr und auf der anderen Seite des Teiches tanzte eine leichte Brise und summte eine traurige Melodie.
Das Wasser auf dem Teich schlief ruhig, ein paar Enten hatten sich am Ufer zu einer Familiensiesta versammelt. Sie saß auf dem feuchten Holz dieser einsamen Bank und schaute durch den weichgrauen Dunst in die Ferne. In der rechten Hand hielt sie eine Mundharmonika, auf der sie eine Melodie spielte. Leise und zaghaft. In der linken Hand hielt sie eine Schnur ganz fest, so fest, dass ihr die Fingernägel in die Haut bohrten und weiße Stellen hinterließen. Sie durfte diese Schnur nicht loslassen, wollte es nicht und hätte es wenn dann ja doch nicht gekonnt. Sie spielte weiter traurige Melodien auf ihrer Mundharmonika und mit jedem Ton wanderte sie hinfort. Weg von diesem einsamen Ort zurück in ihre Wohnung, in der sie gelebt hatten, gelacht hatten und beschlossen hatten gemeinsam im Rollstuhl ins Altersheim zu rollern. Wenn es dann soweit war.

Sie tanzte auf der Mundharmonika davon in durchlebte Nächte und durchweinte Morgende. Und immer, wenn die Melodie besonders weich und warm wurde, stockte ihr der Atem und sie musste Luft holen, tief durchatmen, die Schnur in ihrer Hand noch fester halten und erneut ansetzen für eine neue Melodie voll alter Erinnerungen. Sie summte übers Lachen und gemeinsames Sein, übers Tanzen und Sitzen und dem Leben von innen, von oben und unten und von allen Seiten zusehen. Sie fand Melodien, die von Wundern und Hoffen, vom Banken und Freuen erzählten. Und immer wieder stockte die Melodie. Manchmal hielt sie eine Weile inne, starrte stumm in den Dunst, die Bäume, das Wasser. Und wartete auf den Moment, in dem sie bereit sein würde weiterzuspielen. Und als der Moment kam, und sie wieder einmal von vorn begann zu spielen, überkam sie eine so wunderbare Melodie, dass ihr die Tränen übers Gesicht rannen. Eine Melodie ohne Bilder, ohne Gedanken und ohne Reise. Eine Melodie im Hier und Jetzt. Sie konnte und wollte die Melodie nicht loslassen. Sie musste weiter spielen. Musste wissen, wohin sie führen würde. Sie klang so neu, so anders. So leicht. Sie spielte endlos und spürte, wie ihre Hand schwer wurde vom Spielen. Und damit sie nicht aufhörte, griff sie schnell mit der anderen Hand nach. Und sah die Schnur schwinden, die sie so fest gehalten hatte. Hoch über ihr tanzte sie dahin und an ihrem Ende schwebte ein roter Ballon davon. Beide wiegten sich im Takt der leichten Brise hinüber zum Teich. Doch sie spielte weiter. Versank in ihrer Melodie, spürte ihre Hände weich und ganz und sah hinter Tränen dem roten Ballon bei seinem Nebeltanz zu. Wie er schwebte und schankte, tänzelnd durch die Luft fuhr. Wie er tiefer sank und auf der anderen Seite des Teiches auf dem Wasser landete.

Sie begleitete seine Fahrt auf leichten Wogen noch eine Weile auf der Mundharmonika bis keine Melodie mehr kam, bis sie leergespült und frei war. Und sie sich erfreute an dem roten Punkt, der in diesem weichgrauen Dunst umgeben von Bäumen wie hineingezaubert schimmerte. Langsam stand sie auf, ihre Mundharmonika fest in der Hand ging sie lächelnd durch den Wald zurück in ihre leere Wohnung.

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