Lasst mal, ich mach das schon!

Frau Klein ist heute 9 Monate alt. Momentan ist sie schwer damit beschäftigt das Aufsetzen und Krabbeln zu üben. Sie hat keinen Stress. Sie ist entspannt zwischen „hartem Training“ und „Ruhepausen“. Und ebenso stressfrei habe ich die reinste Freude daran, sie in ihrer Entwicklung zu beobachten.

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Am Sonntag hat sie eine Bekannte auf den Boden gesetzt. Also wirklich wie eine Puppe platziert. Frau Klein war wacklig, kipplig und begann recht bald zu weinen. Sie fühlte sich unsicher und kam vor allem allein nicht aus dieser Position heraus. Schnell nahm ich sie auf den Arm und überließ sie dann wieder ihrer eigenen Entwicklung.

Es war das Bilderbuchbeispiel für das, was Emmi Pikler immer forderte: Die freie Bewegungsentwicklung in dem Tempo, das das Kind selbst wählt, selbst vorgibt. Ohne Eingreifen, ohne Nachhelfen, ohne Stützen. Durch das Bereiten einer sicheren Umgebung und Schaffen von genügend Zeit und Raum für all diese Aktivitäten.

Gerade in dieser hingesetzten Position ist das Kind eingeschränkt, anstatt einen Schritt weiter. Es hängt quasi fest, es kann sich nicht selbst befreien und einem davonrollenden Spielzeug folgen. Es hat keine Ahnung, wie es in diese Position kommen kann und kann so auch nicht selbst wieder herauskommen.

Das Gleiche gilt dann für das sehr bekannte „An den Händen führen“. „Er kann ja schon gehen. Erst mit zwei Händen. Jetzt schon nur noch an einer Hand.“
Nur ist all das kein wirkliches Gehen können, sondern erinnert eher an ein Hangeln. Das Kind lernt natürlich auch so das freie Gehen irgendwann, aber um welchen Preis? Das lange Üben, das Sich immer wieder Aufrichten, Umfallen, Wieder Aufstehen sind ein sehr wichtiger Prozess. Er beinhaltet wesentliche Momente für das spätere Leben:

– Das Beschäftigen und Auseinandersetzen mit einer Sache über längere Zeit
– Frustration erfahren, annehmen 
– schrittweise Erarbeitung von „gesteckten“ Zielen
– Etwas aus eigener Kraft heraus schaffen
– Qualität im Tun und Handeln, und entsprechend im Ergebnis

Denn es geht bei den Meilensteinen in der motorischen Entwicklung nicht nur um das Erreichen dieser, sondern vor allem auch um die Qualität, mit der die einzelnen Schritte ausgeführt werden. Da spielen Körpergefühl, Gleichgewicht und räumliche Wahrnehmung eine große Rolle. Wenn wir uns als Erwachsene einmal betrachten, so haben viele von uns Haltungsschäden, Gleichgewichtsstörungen etc. Wir rennen zum Yoga, Tai Chi oder Quigong, um irgendwie wieder zu einer Mitte zu finden, die wir im stressigen Alltag längst verloren haben. Und wollen so im Prinzip wieder das Erreichen, was Kinder ganz natürlich von sich aus anstreben und erreichen, wenn wir ihnen Raum und Zeit dafür geben.

Nun lassen sich Haltungsschäden im Teenager- oder Erwachsenenalter nicht einfach so vermeiden, nur, weil ich dem Säugling die freie Bewegungsentwicklung ermöglichte. Aber ich schaffe eine Basis dafür, einfacher immer wieder dorthin zu gelangen. Denn wer als Baby körperlich nie ganz bei sich selbst war, immer einen Schritt voraus „gezogen“ von Erwachsenen, überwacht und aufgefangen, dem wird es schwerer fallen später Freiheit und Leichtigkeit im eigenen Körper zu empfinden.

Aber was tun, wenn das Kind übt und übt und ständig frustriert ist?
Ich kenne das. Es ist anstrengend. Im Gegensatz zu Frau Klein konnte Herr Klein nie robben oder kriechen. Er war so auf das Krabbeln fokussiert, brauchte aber sehr sehr lange, um es endlich zu schaffen. Tage, Wochen, Monate lebte ich mit einem sehr frustrierten kleinen Menschen, der übte und übte, aber nicht voran kam. Es war schwer. Alles, was ich tun konnte, war ihn trösten. Ihn immer wieder auf den Arm nehmen, Beschreiben, was ich sah. Aber der Moment, in dem er es geschafft hat, nach all der Zeit, ganz von sich aus, war so unbezahlbar schön und freudvoll, dass es all die Mühe wert war. Und das war nur mein Empfinden, als Beobachterin von außen. Wie muss sich das für ihn angefühlt haben? Fragen Sie mal einen Forscher, der gerade eine These bewiesen hat!

Frustration gehört zum Leben. Wenn wir sie unseren Kindern vorenthalten, werden sie sich später umso schwerer tun, damit umzugehen. Natürlich lasse ich ein Baby nicht auf dem Bauch schimpfend einfach liegen, bis es endlich sitzen kann. Ich bin da, begleite und verstehe. Ich tröste und Ermutige. Und Teile dann die Freude über das Erreichte. Das ist dann keine Erziehung, sondern Beziehung. Und das ist genau das, wonach wir als Eltern streben sollten.

Was ist mit den Normkurven. Woran erkenne ich, wann mein Kind „hinterher“ ist?
Das ist eine sehr individuelle Frage und nicht so einfach zu beantworten. Wichtig ist, das Kind im Gesamten zu beobachten. Hat es sich in allen Schritten etwas langsamer entwickelt? Wie ist die Qualität der bisher erreichten Meilensteine? Ist das Kind zufrieden? An wen kann ich mich wenden, wenn ich wirklich besorgt bin?
Im Vordergrund steht das Vertrauen darin, dass Kinder sich in ihrem eigenen Tempo entwickeln. Die einen früher, die anderen später. Manche sehr früh. Manche sehr spät. Sollte ich dennoch zweifeln, so empfiehlt es sich, mehrere Fachpersonen zu konsultieren. Kinderärzte haben leider wirklich zu oft ihre Kurven im Hinterkopf. TherapeutInnen sehen tunnelartig sehr oft Handlungsbedarf, wo keiner ist. Zu fragen bleibt immer, ob das Kind sich überhaupt entwickelt, ob man sieht, dass es kleine Fortschritte macht oder so gar keine. Allgemeinzustand und Wohlergehen spielen ebenfalls mit hinein. Ist das Kind zufrieden in seiner Situation? Und vielleicht (sehr wahrscheinlich) übt es gerade ganz andere dinge, als die offensichtlichen, auf die wir warten. So kann es ja stundenlang brabbeln und Laute üben, es kann sich begeistert feinmotorisch mit seinen Fingern und Händen beschäftigen, anstatt sich der Grobmotorik zu widmen. Da sind Kinder wirklich höchst individuell.
Hilfreich ist auch die Kinderarztuntersuchungen, die reglemässig anstehen, erst immer gegen Ende einer vorgegebenen Frist zu erledigen, weil die Kinder dann oft schon „im Rahmen“ sind als am Anfang.

Gibt es ein zu früh in der Bewegungsentwicklung?
Nun, es gibt ein „zu hastig“. Wenn Meilensteine zu schnell erreicht werden und dadurch die Qualität der Bewegung, der einzelnen Entwicklungsschritte leidet. Das kann wieder sehr individuelle Gründe haben, die dann einzeln erkannt und beleuchtet werden müssen.

„Warum lassen wir den Säugling sich nicht seinen eigenen Gesetzen gemäß entwickeln?“ Emmi Pikler

Ja, warum eigentlich nicht?

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Debbie Diehl

    WHY not ??

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