Erkenntnisse der Woche – mein ganz normales Kind

IMG_0793Am Dienstag war ich mit Herrn Klein auf einem Kindergeburtstag hier im Haus eingeladen. Wir waren etwas spät dran, weil ich unterwegs ein paar Fahrradkomplikationen hatte und dazu in starken Regen gekommen war. Die meisten Kinder waren also schon da, als wir ankamen, und Herr Klein tat sich – wie so oft – sehr sehr schwer, sich den Kindern zu nähern. Nun, eigentlich näherte er sich überhaupt kein bisschen den anderen Kindern.

Stattdessen klebte er an mir, wollte stets und ständig auf meinen Schoß oder Arm. Zwei Stunden lang hing er nur an mir, wich nicht von meiner Seite und wagte sich kaum in die Nähe der Kinder. Da ich Frau Klein auch dabei hatte, war das etwas anstrengend. Die anderen Eltern warfen mir hier und da müde Lächeln zu. Und ich begann mal wieder zu zweifeln. Schüchternheit ja. Aber so extrem? Mehr noch diese Verschwiegenheit dabei. Egal was ich sagte, was ich fragte – es kam so gut wie nichts. Er kommunizierte fast ausschließlich durch Nicken oder Kopfschütteln. Oder weinerliches leises Reden. Überhaupt begann er recht schnell zu weinen, wenn etwas war oder ich mich zu weit entfernte.

An diesem Tag fragte ich mich mal wieder aufs Neue „Ist mein Kind normal?“ Ist diese verschwiegene, ängstliche Schüchternheit normal? In dem Alter und der Umgebung, die er doch kennt? Diese scheinbare Unselbständigkeit und Abhängigkeit? Vor allem natürlich in dem direkten Vergleich mit all den anderen Kindern dort, die so viel Spaß zu haben schienen. Ja, er mag hochsensibel sein, aber immer alles nur darauf abzuwälzen, schien mir auch zu einfach. Und wo ist da die Grenze zur Normalität und zum ungesunden Extrem?

Auch auf Twitter begann eine Diskussion darüber und es kamen ein paar Erfahrungsberichte zu Tage, die mich etwas beruhigten. Was mich jedoch immer wieder zwickte waren Aussagen wie „Was ist schon normal?“ und „Wer will schon ein normales Kind?“

Meine Gegenfrage ist: Wer will ein extremes, in eine Richtung unnormal, vielleicht ungesund krankhaftes Kind? Denn was liegt dazwischen? Wo ist die Grenze und wann beginnt das eine, wo hört das andere auf? Normal ist eine Frage der Definition. Für mich ist es eine sehr breite Hängematte. Ich kann mich darin bewegen wie ich mag, kann es mir bequem machen, mich hineinsetzen oder -legen. Kann wild oder leise schaukeln und dabei den Himmel beobachten. Wenn ich mich zu weit auf den Rand hin zubewege wird es unbequem und die Gefahr, dass ich kippe oder rausfalle immer größer. So, wie ich dann auch aus der Norm kippe.

Ich glaube ja, dass wir uns viel öfter „normale“ Kinder wünschen, als wir zugeben. Viel öfter wünschen wir uns, dass sie „normal“ essen, schlafen, spielen oder reden. Viel zu oft fragen wir „Ist das normal?“ und sind besorgt. Sind erst beruhigt, wenn drei andere Eltern sagen „Ja, kenne ich. War bei uns auch so.“ Was ist also so schlimm an normal?

Ist es nicht viel schöner, wenn unsere Kinder normal sein können? Natürlich wünschen wir uns, dass sie sie selbst sind. Individuell und vielleicht auch etwas außergewöhnlich. Aber wer sagt, dass das nicht im Rahmen des Normalen liegt? Und was, wenn sie aus der Norm kippen? Dann werden sie viel zu oft an dem festgemacht, was sie so außergewöhnlich macht. Dann sind die „nicht normalen“ Kinder immer die, die so unnormal laut, wild oder aggressiv sind. Dann sieht man in ihnen längst nicht mehr, was sie eigentlich sein können. Erkennt ihre positiven Besonderheiten nicht mehr. Verdammt dazu, unnormal zu sein. Wer mal einen schlechten Ruf hatte, weiß, was das bedeutet, diesen wieder los zu werden. Und was ist mit denen, die positiv unnormal sind? Die sind dann so besonders einfühlsam, besonders musikalisch oder besonders früh entwickelt. Wollen diese Kinder, dass man in ihnen immer nur diese Besonderheit sieht? Gerade hochbegabte Kinder können ein Lied davon singen, was es heißt, besonders unnormal zu sein. Die wünschen sich, mal in der Masse unterzugehen.

Ich wünsche mir für unsere Kinder, dass sie viel mehr normal sein dürfen. Dass wir als Eltern keine Angst vor dem Normalen haben, sondern offen genug, um darin das Besondere zu sehen. Besondere Momente. Besondere Eigenheiten, die nur hier und da mal auftauchen. Besondere Besonderheiten.

Heute sehe ich diesen Kindergeburtstag aus einem ganz anderen Licht und es ist mir ganz klar, was in Herrn Klein vorging. Ich finde sein Verhalten heute auch viel normaler. Er war müde, er hatte sich auf das Geburtstagskind, aber nicht auf die vielen anderen Kinder gefreut. (das sagte er mir dann später) Er hatte ein Bild gemalt und eine selbst gepflückte Tomate vom Morgen aufgehoben, um sie mit dem Geburtstagskind zu teilen. Das mag für viele nicht normal klingen. Aber ich denke es ist einfach ein besonderes Geschenk an einem ganz normalen Geburtstag.

 

Sind Eure Kinder ganz normal? Oder fragt Ihr Euch auch manchmal, ob sie da nicht etwas unnormal sind? Wann ist das? Was haltet Ihr für nicht so ganz normal?

Dieser Beitrag hat 7 Kommentare

  1. Mara

    Das ist ein weites Feld ;),
    wo es doch schon wieder unnormal ist, wenn jemand normal ist.

    Ich finde deine Beschreibung vom Normalseindürfen mit Exkursionen ins (für uns) Besondere wunderschön und treffend.

    Viele Eigenschaften meiner Kinder kommen mir besonders vor, aber das liegt auch an dem Vergleich, dem sie ausgesetzt sind, hier in der Familie, mit unseren früheren Kinder-Ichs, mit den Kindern in der Kita usw.

    Ich mag besonders eine Kindergartengruppe sehr gerne, weil da auch unnormale Kinder sind, Kinder mit einem Chromosomen mehr als normal, Kinder, die verhaltensauffällig sind, Kinder, die sich schlecht bewegen können oder wenig reden. Da ist nämlich die Hängematte viel, viel breiter.

    Die ständige Frage nach dem „Ist das noch normal?“ hat aber schon seinen Sinn, finde ich, wenn man sie nicht zu einem Götzen macht. In einem gewissen Rahmen ist das Kind gesund, vllt braucht es aber eine besondere Förderung, Logopädie zum Beispiel, wie bei unseren Zwillingen. Oder das unnormale Verhalten ist ein Zeichen einer Krankheit oder Störung oder will uns auf etwas aufmerksam machen.

    Letztendlich sieht die Hängematte bei jedem Kind ja auch wieder anders aus. Aber wenn ich weiß, wie diese besondere Hängematte schaukelt, wie hoch und wie tief, welche Farbe sie hat und wie sie sich anfühlt, dann kann ich doch erkennen, wenn es eine für die spezifische Normalität des Kindes unnormale Abweichung gibt.

    Vielen Dank für die schönen Gedanken,

    Mara.

  2. Time

    Danke für diesen tollen Beitrag. Ich musst viel diskutieren, bevor man mir abnahm, dass der Prinz „normal“ ist. Wer nämlich drei Monate zu früh auf die Welt kommt, der ist per se nicht „normal“. Und der muss ständig speziell gefördert und therapiert werden. Wie ätzend! Aber jetzt, nach fast drei Jahren, kann ich klar sagen: Er entwickelt sich normal. Und das ist mehr, als ich je zu träumen wagte!

    (Geholfen hat mir dabei aber vor allem mein zweites Kind. Sie ist in ihrer motorischen Entwicklung deutlich langsamer und damit das beste Beispiel, dass kein Kind in eine Schablone passt. Da sie normalgeboren ist, beruhigt mich das ungemein.)

    Wie du schon schreibst, normal sein ist vor allem beruhigend. Und unauffällig. Und wer sagt, dass unauffällig schlecht ist? Ich freue mich jedenfalls, dass sich sein Verhalten für dich noch erklärt hat. Manchmal kann man nicht aus seiner Haut und dann hilft eben nur Mama. (( ))

  3. margreth

    puuh..es ist schon zu spät für all das, was mir nach dem Lesen durch den Kopf schwirrt…gerne einmal ein Gespräch darüber. Was ich heute noch gerne sagen mag: Herrn Klein darf ich jetzt doch schon einige Zeit mit einer gewissen Distanz begegnen und beobachten und- ich geniesse es seine so individuelle Entwicklung mitzuerleben…vielleicht ist das doch ein wichtiges Wort in der ganzen Sache: Individuell- jede/r geht den Weg, der ihr/ihm entspricht…

  4. Ilsa

    Ich frage mich auch, warum heutzutage immer für alles ein Ettikett gesucht wird. Ein Kind ist nunmal ein Kind und verhält sich auch so, mit der ganzen Bandbreite an Gefühlen und Verhaltensweisen, die es so gibt. Und dabei kann ich es begleiten. Das muss man doch nicht immer gleich alles pathologisieren.

  5. ann-ka

    danke für diesen text – deine eindrücke, gedanken und denkanstöße.
    ich werde wohl noch eine zeit lang über dieses thema nachdenken und mich auch mit meinem partner darüber austauschen.
    normal. normal ist bunt, normal ist vielfältig und auch sehr individuell.
    als eltern begleitet einen diese frage ein leben lang. es beginnnt direkt nach der geburt. wie war die geburt? normal? wie groß und schwer ist das kleine? normal?

    wichtig finde ich immer das große ganze zu sehen. so wie du die situation für euch noch einmal reflektiert hast, finde ich es sehr nahe am kind. achtsam. du hast herr klein gesehen, aber auch dich.
    toll das du ihn nicht gedrängt hast und einfach für ihn dagewesen bist. ihm raum geboten hast, zu sein, zu schauen, aufzunehmen…

    die frage nach dem normal stelle ich mir häufig. würde jetzt aber zu lange dauern um genau darauf einzugehen. ich merke nur häufig das ich im gegensatz zu anderen in meinem umfeld versuche etwas gesamtes zu sehen und nicht nur die einzelne sitution. wie war das aufstehen, der morgen, manchmal auch die nacht, die letzten tage. oder auch wie du schreibst die erwartungen des kindes an eine situation.
    ich kann meine tochter häufig gut verstehen, spätestens abends im bett nachdem ich noch einmal darüber nachgedacht habe.
    viel schwerer fällt es mir häufig, mit der reaktion der umwelt auf das verhalten meines kindes umzugehen. vor allem wenn man dann so dinge hört wie, mit vier sollte mn sich das aber taruen, wenn du mal groß bist…, stell dich nicht so an…

    ich finde dadurch wird den kindern viel genommen.
    wie gehst du damit um? kennst du solche situationen?

    herzlich, ann-ka (hast du eigentlich eine mail adresse?)

    1. buntraum

      für solche Reaktionen habe ich zwei Verhaltensweisen. Wenn sie direkt ans Kind gerichtet sind, richte ich mich auch ans Kind und sage Dinge wie „Ach naja, mit 4 muss man noch gar nichts. Groß wirst Du noch früh genug, oder?“ So ähnlich halt, je nachdem worum es geht. Wenn ich merke, dass mein Kind gar nicht drauf reagiert, auf das, was derjenige gesagt hat, sage ich auch nicht unbedingt was. Wir haben das oft mit dem Daumen im Mund. Oder ich werte einfach das, was gesagt wurde, runter. Aber ich gehe nie in Diskussionen mit anderen. Das ist mir einfach zu mühsam. Die kommen aus einer ganz anderen Ecke und anderem Hintergrund. Und sind selten an wirklichem Austausch über das Eigentliche interessiert. Die Meinungen sind oft gar nicht reflektiert oder überlegt. Naja, und am Ende lasse ich mich halt eher mal auf dem Blog hier aus. Da erreiche ich wenigstens Menschen, die sich auch für das Thema interessieren.
      Beim Kind bleiben ist für mich oft die Hauptsache. Und das Gesamtbild sehen, so wie Du es schon schreibst. Das kennen eben auch nur wir, und nicht die anderen.
      liebe grüße!

  6. ann-ka

    ps: mailadresse habe ich nun in den kontakten entdeckt ;)

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