Empathie und Klarheit

IMG_7866Ich erinnere mich gut an eine Szene mit Herrn Klein, als ich mit Frau Klein schwanger war. Wir waren bei mir im Büro und wollten gehen. Herr Klein wollte gern die Stiege statt dem Lift nehmen und weil es nur 1 Etage war, stimmte ich zu. Ich trug seinen Buggy die paar Stufen hinunter, er hielt sich am Geländer fest und ich ging davon aus, dass er selbst gehen würde. Stattdessen begann er laut zu schreien. Weil der Buggy erst nach ihm nach unten sollte, und nicht vor ihm.

Ich war müde, schwanger und genervt. Ich hatte absolut keine Lust den Buggy wieder raufzutragen, zu warten, bis Herr Klein unten war und dann den Buggy wieder runter zu tragen. Auch wenn es nur ein paar Stufen waren. Aber anstatt ihm das zu sagen, begann ich halb empathisch, halb verständnisvoll auf ihn einzufaseln: „Ja, Du willst, dass der Buggy oben bleibt, bis Du unten bist. Aber jetz hab ich ihn schon runter getragen, jetzt komm bitte.“ Tobender Herr Klein. „Ich weiß, Du ärgerst Dich.“ Tobender Herr Klein. Leicht genervtes Ich. „Ich trag den Buggy jetzt nicht mehr rauf. Du kannst runter kommen oder ich trage Dich runter.“ Tobender Herr Klein. Sehr genervtes Ich. Am Ende trug ich den tobenden Herrn Klein runter, steckte das sich windende Bündel Kleinkind in den Buggy und war wütend. Eine zeitlang gingen wir schweigend so dahin. Bis die frische Luft meine Kopf durchblies. Und es mir leid tat.

Wirkliche Einsicht über diese Situation und viele anderer solcher bekam ich im Gesprächsabend, den wir regelmässig besuchen. Überempathie war die Diagnose. Fehlende Klarheit. Fehlende Führung.

Das Wort Führung ist im deutschsprachigen Raum nicht gern gehört. Aber wenn wir unter Führung eine klare, verständnisvolle (Beg)leitung, statt ein Antreiben und Befehlen verstehen, dann werden wir sehen, wie wichtig diese ist. Denn wenn wir uns als Eltern immer und immer wieder in Empathie und Verständnis verlieren und dabei uns selbst, unser eigenes Empfinden und unsere eigenen Erwartungen vergessen, dann rutschen wir in diese „Überempathie“. Oder ganz und gar in falsche Empathie. Nämlich in das entnervte „Ja, ich weiß, Du hättest gern, aber…“ inklusive entsprechender Tonlage und entsprechendem Gesichtsausdruck.

Zum Führen, zum Klarsein gehört natürlich, dass wir uns selbst klar sind darüber, was wir in welcher Situation wirklich wollen. Was möglich ist, was wir ertragen und mitmachen und was uns zu viel ist. Unsere eigenen Grenzen (er)kennen. Und diese wahren. Aber wie geht das?

Ja zu mir selbst
Nicht nur im Leben mit Kindern, auch im zwischenmenschlichen Miteinander mit Familie, Bekannten, Freunden und Fremden ist es wichtig, klar zu sein. Bei sich zu sein. Zu vermitteln, was man will. Und was nicht. Ein klares Nein ist ein klares Ja zu sich selbst. In gewissen Situation immer wieder hinterfragen: Was ist mir hier jetzt wirklich wichtig? Was tut mir gut? Und was nicht. Und entsprechend zu handeln.

Ich habe das teilweise gelernt, als ich in Schottland lebte und irgendwann begann, auf diese Saufabende in Pubs zu verzichten. Wer die Schotten kennt, weiß, wie schwer ein Nein ist. Es auszusprechen, und dann noch auf ihm zu beharren. Aber als ich es schaffte, sagte ich klar „ja!“ zu mir selbst. Es ging mir gut damit. Sehr gut. (Vor allem am nächsten Morgen…)

Ja zu den Kindern
Nein sagen kann man also lernen. Es braucht Zeit, es dauert. Aber es geht. Aber das allein reicht nicht. Genauso wichtig ist auch ein klares Ja! Jedes Ja! bewusst aussprechen. Auch mal freudig, euphorisch. Ein Nein rufen wir oft laut und schnell, manchmal panisch, manchmal verärgert. Es hat oft einen prägnanten Ton. Ein Ja! grummeln wir gern, nuscheln oder nicken nur. Warum? Ein Ja zu zelebrieren hilft uns genauso, klarer mit uns selbst zu werden. Ja, das will ich jetzt wirklich! Ja, das tut mir/uns jetzt richtig gut! Ja! Ja!! JA!

Authentisches Ich
Was unsere Kinder wollen, ist ja nicht immer nur selbst verstanden werden. Sie wollen auch uns verstehen. Uns kennen lernen. Wissen, wer wir sind und wie wir ticken. Deshalb ist eine authentische Führung wertvoller, als eine gewollte (Über)empathie. Ein „Ich bin jetzt echt genervt.“ oder „Ich verstehe grad nicht, was Du willst.“ darf auch mal sein. Ganz wirklich.

Heute profitieren meine Kinder von meiner Klarheit. Natürlich hinterfragen sie immer wieder, ob gewisse Regeln und Grenzen noch immer gelten. Und natürlich steht und fällt alles mit dem Allgemeinzustand, mit Müdigkeit und Hunger. Ebenso wie meine Reaktionen, mein Verständnis mit meinem Allgemeinzustand zu tun haben. Es ist ein stetiges Lernen. Ein stetiges Wachsen. Gemeinsames Wachsen.

Dieser Beitrag hat 5 Kommentare

  1. Lorelai

    Ich habe oft Mühe, diese „Theorie“, wie Du sie hier beschreibst in eine konkrete Situation zu übersetzen, anzuwenden. Mir fehlen hier 2-3 Sätze, wie die erwähnte Situation mit dem Buggy konkret aussehen hätte können damit sie nicht überempathisch geworden wäre (inkl. der fehlenden Klarheit/Führung). Ich wäre Dir sehr dankbar wenn Du dies noch „nachreichen“ könntest damit ich es besser verstehen kann. Vielen Dank! :)

  2. abc

    das fehlt mir auch. besonders auch, wie man nicht in dieses wenn-dann-drohen rutscht. ich bin so aufgewachsen und will selbst nicht so zu meinen kindern sein

Schreibe einen Kommentar