Ein Rucksack voll Gespür – Wenn genug genug ist

IMG_0696Wenn die Sonne brennt und die Tage hitzig sind, laufen wir alle auf kleinerem Gang. Jede Bewegung ist anstrengend, jeder zusätzliche Input eine Belastung. Unser Wunsch ist oft, irgendwie durch diese Tage zu kommen. Mit Kindern eine zusätzliche Herausforderung. Denn auch sie empfinden die Hitze häufig als sehr belastend. Nur zeigen sie das weniger durch Seufzen und kleine Pausen, sondern durch „unangemessenes Verhalten“. 

Wenn Eltern mir erzählen, dass sie mit ihren Kindern im Urlaub jeden Tag ein anderes Programm planen müssen, damit die Kinder beschäftigt sind, damit sie nicht schreien, toben und ausrasten, dann werde ich selbst ganz unruhig. Denn da spüre ich, was Eltern oft schon lange nicht mehr spüren – nämlich wann ihre Kinder ihnen Signale senden. Signale, die Hilferufen gleichkommen. Die sagen: Ich kann nicht mehr. Hilf mir hier raus. Dann will ein Kind nicht noch mehr Input und noch mehr Action, dann braucht ein Kind Ruhe, uns, Nähe, eine Pause. Oder drei. Es braucht Kontakt zu uns und das Verständnis, dass auch ihm das alles mal zu viel ist und sein darf. Die Hitze. Die vielen Leute am Badesee. Die schlecht geschlafenen Sommernächte oder eiskalte Winternächte.

Denn dieses Gespür für unsere Kinder, das ist uns generell abhanden gekommen. Nicht nur im Sommer. Aber warum? Wie? Und wo ist es hin?

Von Geburt an werden uns Unterhaltungsangebote für Kinder und Eltern angeboten. Vieles unter dem Deckmantel der Förderung. Einiges davon nehmen wir wahr, anderes nicht. Uns wird erzählt, was Kinder in welchem Alter können müssen dürfen sollen wollen. Und wir vergleichen. Können wollen dürfen sollen sie das schon? Und wenn nicht – was dann? Kein Problem, es gibt Ärzte, Mütterzentren, Kindergartenpädagoginnen, Therapeuten jeglicher Art – irgendwer wird Antwort wissen. Obendrein unzählige Ratgeber, die ebenfalls eine Meinung haben. Oder tausend. Die Gesellschaft sagt uns, dass ein Leben mit Kindern keine Veränderung braucht. Kind in die Trage und überall hin mitgenommen. Wird es unruhig, kann es dort an Mama oder Papa gebunden weiterschlafen.

Was uns in all dem abhanden kommt, ist die Beobachtung. Das Gefühl für unser eigenes Kind. Und die angemessene Reaktion unsererseits. Die Eltern, die ihr Kind nehmen und sagen „Ich glaube das ist jetzt zu viel, wir gehen lieber.“ sind rar und werden als Übereltern abgestempelt. Schnell verliert man soziale Kontakte, weil man zur Mittagsschlafzeit lieber daheim ist, abends zu angemessener Zeit die Kinder im Bett wissen möchte. Weil man weiß, dass sie ab 16Uhr nicht mehr unterhaltsam sind, nicht mehr unterhalten werden wollen und das respektieren will. Was man erntet, ist alles andere als Respekt. Oft jedenfalls. Ärzte rufen „mehr Bewegung“ und die Eltern hasten nach dem Kindergarten noch durch die Stadt auf den besten Spielplatz. Treffen dort andere Eltern und Kinder, damit niemandem fad wird.

Am Heimweg schleift man dann oft die müden und überreizten Kinder durch den Supermarkt und dann nach Hause. Im Stiegenhaus der unermüdliche Kampf über unermüdlich schwere Füße, am Abendtisch Gekreische über falsch beschmierte Brote. Alles ist anstrengend und mühsam. Die Kinder sind anstrengend und mühsam. Der Dank dafür, dass wir ihren Bedürfnissen entsprechend ein aktives Wochenprogramm absolvieren? Im Bad geht das müde Drama weiter. Die Zähne wollen nicht mehr geputzt werden, die Kinder toben überdreht durch die Wohnung und kommen trotz dieser schweren und sichtbaren Müdigkeit nicht zur Ruhe. Entnervte Eltern werfen das Handtuch oder schälen sich spät abends leise aus dem Bett der endlich eingeschlummerten Kinder. Diese liegen erschlagen in ihren Betten und haben wieder einen vollen Tag lang das verpasst, was sie doch dringend brauchen. Ruhe. Nähe. Zweisamkeit.

Denn wenn die Tage so chaotisch, so laut schreiend und „mühsam“ und „anstrengend“ enden, dann ist die Antwort darauf eben NICHT die Kinder noch mehr auszupowern, damit sie doch am nächsten Abend hoffentlich streichfähig ins Bett sinken. Und die Ruhe für die Eltern früher einkehrt. Aber genau das ist die Spirale, in die wir uns da gern begeben. Wir bieten noch mehr Action für so schon ausgepowerte Kinder. Wir übergehen die Warnsignale und treten auf weitere Landminen.

Denn genau diese Ruhe, die tut unseren Kindern ebenso gut wie uns. Ja, sie bedeutet, dass wir uns einfach mal zu ihnen setzen, bei ihnen sind, in Kontakt sind. Dass wir einfach mal einen Tag keinen Plan haben, keine Agenda und nach Lust und Laune die Zeit vertrödeln. Aber sie ist essentiell. Sie ist für die Kleinen genauso wesentlich und energieliefernd, wie für die Großen.

Und dann werden wir uns, in dieser nährenden Zweisamkeit, wieder neu kennenlernen, neu erfahren und spüren. Und mit diesem Gespür sind wir dann wieder gut gerüstet für den weiteren gemeinsamen Weg.

Dieser Beitrag hat 8 Kommentare

  1. Sam

    Du sprichst mir aus der Seele.
    Kinder benötigen auch Ruhe und Leerlauf, nicht immer Action!
    Aus meinen Erfahrungen heraus, kann ich noch hinzufügen:
    Nach einem stressigen Tag wird das Ganze noch in der Nacht verarbeitet und endet dann oftmals in Alpträumen.
    Ein schöner Artikel, der zum Nachdenken anregt…

  2. Silke

    Der Artikel passt einfach gerade perfekt – für mich jedenfalls. DANKE! (und damit Ruhe ;)

  3. WUNDERTÜTENTAG

    YES! Genau so. Du sprichst mir aus der Seele. Und mittlerweile, mein Sohn ist 4, habe ich angefangen auf mein Gespür zu hören – Mein und sein Bedürfnis nach Ruhe und Zweisamkeit für uns, ohne Programm, ohne Action.
    Ich habe das schon lange so gespürt, aber mein Gespür nicht ernstgenommen,mich nicht getraut…
    Denn alle Welt plant viel Action; täglich,auf dem Spielplatz treffen….
    Es tut so gut, einen Nachmittag nur im Garten zu sein, nur wir zwei…. Oder auf einem Ausflug wirklich zusammen Tiere/ Natur/ was auch immer es zu sehen gibt gucken und erleben.
    Danke für diesen schönen ermutigenden Post.

  4. ann-ka

    danke!
    auch ich kann mich dir nur anschließen.
    immer wieder wird unser alltag viel zu voll, eine aktion jagt die nächste,
    rituale und feste abläufe gehen verloren, weil man eben noch mal kurz…
    allein der kindergarten ist für meine tochter schon ein vormittag der vieles bietet, trotz fünf stunden wald (frei sein, kind sein) gibt es viel zu verarbeiten.
    wir versuchen zwei nachmittage in der woche ganz für uns zu lassen. an einem wird geturnt, der andere ist wenn gewollt zum verabreden und der dritte ist ein oma nachmittag. schwupp ist die woche wieder rum.

    mich stört auch sehr, dass die umwelt von den kindern immerzu erwartet zu funktionieren, „lieb“ zu sein und das noch nach einem langen vollen tag. viele können das große ganze nicht sehen. zusammenhänge erkennen. wobei, viel mehr stört mich wahrscheinlich, dass ich mich hiervon beeinflussen lasse, nicht bei mir bleibe.

    bei uns gibt es auch immer wieder gemecker beim essen, zähne putzen…
    ich versuche immer wieder den blick dafür zu haben, was auf diesen kleinen schultern lastet. lasse unsere tochter zeigen, ausleben wie es ihr geht. nicht immer schaffe ich es sie dabei zu begleiten? wie geht es dir damit? ich fühle mich durchaus irgendwann angegriffen, wenn alles falsch ist was ich tue und nur gemeckert wird. in erster linie gilt es den alltag zu entschläunigen, aber was wenn dies mal wieder nicht geklppt hat?

    herzlich, ann-ka

  5. helen

    Danke! Was werde ich schief angeguckt, weil ich nicht finde, dass meine 2jährige Tochter „dann halt mal im Kinderwagen Mittagsschlaf machen muss“ oder doch mal zum Geburtstag der Uroma wenigstens bis 20Uhr bleiben kann…. „Du kannst doch nicht dein Leben nach den Kindern richten“. Doch. Aber wenn es mich zur Glucke macht, dass ich mein Baby nicht rumreiche, nach Bedarf stille und Feiern verlasse, weil mein Kind erschöpft ist, dann ist das eben so :-)

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