Das Zaubermittel für Eltern: Wahrnehmen

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Ich werde immer wieder in Gesprächen mit Eltern und bis vor kurzem auch im Spielraum gefragt „Wie gehe ich damit um, wenn mein Kind…?“ Dabei geht es um verschiedenste Situationen. Wenn die Kinder toben und schreien. Wenn die Kinder andere hauen. Wenn die Kinder nicht teilen wollen. Wenn die Kinder außer sich sind. Wenn die Kinder „dramatisieren“ oder „trotzen“. Wenn die Kinder so oder so sind. 

Während nun jedes Kind ganz individuell ist, jede Situation anders und jeder Tag neu, gibt es eine Sache, die wir immer tun können und die über allen anderen noch so guten Erziehungstips stehen sollte: Das Wahrnehmen. Das Wahrnehmen der Empfindungen und Gefühle, die unsere Kinder äußern. Das Wunderbare daran ist – auch wenn wir im Moment nicht wissen, was los ist, weil das Kind scheinbar „grundlos“ tobt oder schreit oder weint – wir können es einfach aussprechen: Du bist traurig. Du musst Dich gerade sehr ärgern. Du bist wirklich wütend.

Das Problem ist nämlich oft, dass wir die Situation auflösen wollen. Wir wollen, dass die Kinder aufhören zu weinen, wir wollen, dass sie glücklich und zufrieden sind. Das ist natürlich und verständlich, aber es ist nicht immer durch Zauberhand möglich, egal wie sehr wir uns das wünschen. Und wenn wir dann versuchen zu richten und zu schlichten, wenn wir Dinge sagen wie „Aber Du kannst doch damit spielen.“ oder „Das gehört aber nicht Dir.“ oder „Ihr könnt Euch doch abwechseln.“ oder im Akkord fragen „Magst Du das? oder magst Du was trinken? Hast Du Hunger? Bist Du doch müde?“ dann fahren wir grundsätzlich mal über das eigentliche Empfinden drüber. Und womöglich habt Ihr auch schon bemerkt, dass diese Dinge selten zielführend sind. Selten sagt ein Kind „Achso stimmt, dann spiel ich halt mit dem Auto hier.“ oder „Ja stimmt, ich hab Durst, deshalb bin ich so außer mir.“

Wenn wir einem Kind dort begegnen, wo es gerade emotional ist, dann haben wir viel mehr die Chance es auch wirklich zu erreichen. Und vielmehr: Das Kind bekommt das Gefühl, dass egal, was gerade in ihm los ist und was Auslöser für seine Emotionen ist: Es ist angenommen und verstanden. Auch wenn wir nicht immer die Situation verstehen. Weil ein Kind wegen etwas wütet, was uns lächerlich erscheint vielleicht. Oder weil wir schlicht und einfach nicht verstehen oder ahnen, was los ist. Und genau darum geht es: Dass es nicht darum geht die Situation zu verstehen und zu richten. Sondern das Kind aus der Situation abzuholen. Und das geht in jedem Alter.

Wenn Miniklein tobt, weil er nicht mit dem Messer im Marmeladeglas herumfahren darf, dann kann ich sagen: „Das macht Dich jetzt total wütend.“ anstatt ihm zu erklären dass sonst die Marmelade überall landet und alles klebt und und und. Das hört er in seiner Wut sowieso alles nicht. Es heißt auch nicht, dass er sofort aufhört zu wüten. Im Gegenteil, es kann dazu führen, dass er nochmal richtig reinkippt. Aber wenn ich dabei bleibe und sage: „Ja, du musst jetzt mal so richtig wüten.“ dann kann er das auch tun ohne dabei belehrt und berichtigt zu werden. Und wenn ich nicht weiß, warum er schreit, dann kann ich zumindest sagen: „Ich weiß zwar nicht, was los ist, aber Du ärgerst Dich gerade sehr.“ Dabei wird nicht bewertet oder abgewertet, sondern einfach nur wahrgenommen was ist.

Wenn Frau Klein weint, weil sie „immer die Schuldige ist und alle böse auf sie sind.“ dann kann ich statt zu sagen „Das stimmt doch gar nicht!“ einfach sagen: „Du hast das Gefühl dass immer Du schuld bist und das macht Dich traurig.“ Und dann nickt sie und schluchzt und wir können in Ruhe darüber reden, ohne dass ich sie im Vorfeld schon abwerte.

Wenn Herr Klein weint, weil seine Freunde ohne ihn davonlaufen, dann kann ich sagen „Das macht Dich traurig, dass sie nicht auf Dich gewartet haben.“ anstatt zu sagen „Dann lauf doch hinterher.“ oder einzustimmen und zu sagen: „Lass die doch, wenn sie nicht warten wollen.“ Wenn ich allein ihn wahrnehme in seiner jetzigen Emotion, spürt er, dass ich ihn so annehme und öffnet sich, vertraut mir und erzählt. Nicht immer, aber oft.

Das Wahrnehmen der Gefühle und Empfindungen ist ein wahres Zaubermittel. Denn wenn es über der Schlichtung und Aufklärung von Situation steht, dann haben wir den Zugang zum Herzen vor der analytischen Begegnung. Dann sind wir in Kontakt und in Beziehung zueinander. Und das ist wesentlicher als alles Rationale und scheinbar für uns Erwachsene Verständliche. Ja, Kinder müssen viel lernen und auch gestärkt werden darin mit gewissen Situationen im Leben umzugehen. Doch wenn wir das über die Gefühlsebene schaffen, dann werden sie es auch wirklich zulassen und verinnerlichen können. Dann werden sie rundum gestärkt: in sich und im Außen.

Und im Übrigen funktioniert diese Zauberei auch in der Begegnung mit Erwachsenen. Ich bin als doch sehr empfindsame und sensible, teilweise menschenscheue und zurückhaltende Person oft in Erklärungsnot. Ich höre ganz oft Sätze, wie „Aber das ist doch nicht so schlimm.“ oder „Aber das ist doch lustig.“ Sätze, die über meine Empfindung drüberfahren und rationalisieren wollen. Das hilft mir nicht, es gibt mir das Gefühl, dass ich falsch bin und alle anderen richtig und dass mich keiner versteht. Einen Großteil meines Lebens habe ich mich so gefühlt. Wenn wir schon bei unseren Kindern beginnen sie in ihrem Sein und Wesen wahrzunehmen, dann können wir genau das verhindern. Weil wir sie innerlich stärken und rüsten dafür, dass sie auch mal Menschen begegnen, die sie nicht so gut verstehen. Ist das nicht etwas, was wir als Eltern wollen?

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. Tina

    Liebe Nadine, du hast so recht! Ich versuche dies auch immer wieder im Alltag umzusetzen. Manchmal, wenn ich total erschöpft bin nach einer Nacht mit schlechtem Schlaf, kann ich es auch bei mir üben und annehmen. Kennst du das Buch „Von der Erziehung zur Einfühlung“ (Wie Eltern und Kinder gemeinsam wachsen können) von Naomi Aldort? Dieses geht in die selbe Richtung und ich mag es, immer wieder darin zu lesen als Reminder. Liebe Grüsse, Tina

  2. Brigitte

    Liebe Nadine,

    Danke für diesen Artikel! Das passt gerade so gut für uns. Und eigentlich weiß ich es ja auch, aber im Alltag ist oft das Bedürfnis größer, dass sie einfach damit aufhören. Schön, dass du mich wieder daran erinnert hast, warum das annehmen so wichtig ist und es gar nicht um das abstellen und ändern geht.

    Und ja, mich bringt es auch auf die Palme, wenn mir wer einredet, dass es ja gar nicht so ist, wie ich es empfinde. Ich glaube, dass das für uns Hochsensible besonders schlimm ist, weil wir uns dann ganz falsch fühlen.

    Liebe Grüße Brigitte

  3. Isabella

    Liebe Nadine,
    vielen Dank für diesen praxisnahen, unterstützenden Artikel. Er kommt genau zur rechten Zeit. Denn ich beobachte bei mir momentan eine Entwicklung, einfach nur genervt zu sein, wenn die Kinder „überreagieren“ und starke Gefühle ausdrücken.

    Ich denke mir oft „mittlerweile sind sie doch alt genug um nicht mehr so zu brüllen, toben, etc“. Aber in Wahrheit erwarte ich nur, dass sie sich friedlich verhalten, damit es für mich leichter ist.

    Ich nehme deinen Beitrag zum Anlass, um meine Gefühle, und die Gefühle meiner Kinder, Familie und anderer wieder besser wahrzunehmen. Danke!
    Liebe Grüße, Isabella

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