Das kann weh tun

IMG_4532Unlängst erreichte mich eine email einer Leserin, die verzweifelt schrieb:

Hallo Nadine,
habe gerade deinen Artikel in Fachjournal für Stillen und Laktation 2/2104
“Betäubt heisst nicht traumatisiert” gelesen.Er hat mich sehr berührt.
Meine grosse Sorge unsere grosse Tochter 5,5 Jahre, die beim Arztbesuch schreiend unter den Tisch flüchtet und nichts und niemand an sich ranlässt.Nur schreit ! Nun habe ich Karies entdeckt, der Besuch beim Zahnarzt lief genauso ab, sie ist schreiend unter den Stuhl geflüchtet , die Oma in den Finger gebissen. Näheres würde ich dir gerne mitteilen. Hast Du eine Idee? Sonst bleibt nur die Narkosebehandlung.

Ich fühlte sehr mit dieser Mutter. Herr Klein hatte ja zuweilen selbst eine sehr ausgeprägte Angst und Panik vor Ärzten. Doch jetzt hat sich das bei ihm gelegt. Während ich mit der Mutter natürlich im Austausch bin, möchte ich dennoch noch einmal darüber schreiben, wie ich glaube, dass wir Arztbesuche für unsere Kinder annähernd erträglich gestalten können.

Vorbereitung
Oft fürchten wir uns ja selbst vor den Arztbesuchen mit unseren Kindern. Vor allem bei anstehenden Impfungen, die in den ersten Lebensjahren häufig auf dem Plan stehen. Am liebsten würden wir unser Kind dafür in den Tiefschlaf versetzen, um ihm diesen Pieks zu ersparen. Viel leichter tut sich jedoch ein Kind, wenn wir ihm rechtzeitig ankündigen, dass eine Impfung ansteht. Gleiches gilt für sämtliche andere Arztbesuche, wie die regelmässigen Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen oder chronisch bedingte Kontrollen. Klar und ehrlich gilt es zu vermitteln, was ansteht und was bei der Untersuchung geschehen wird.

Ehrlichkeit
Wir sollten dabei nicht verheimlichen, dass etwas weh tun oder unangenehm sein könnte. Wir begegnen jedes Jahr erneut der gleichen Assistentin im Krankenhaus, die ein EKG bei unserem Sohn macht. Er mag das nicht und sie sagt immer wieder: „Das tut doch nicht weh.“ Fakt ist: Es ist ihm unangenehm. Er mag nicht liegen bei Ärzten, das ist ihm unheimlich und ich vermute es hat mit dem Ausgeliefertsein zu tun. Es tut ihm weh, wenn sie die Elektroden von seiner Haut wieder abziehen. Und die Klemmen an Händen und Füßen drücken wahrscheinlich. Es ist ihm also unangenehm und das gilt es zu respektieren. Wir als Eltern sollten auf diese Details achten und im Vorfeld darauf hinweisen, dass sie notwendig sein werden.

Notwendigkeit
Wir können unserem Kind immer wieder erklären, dass wir zum Arzt gehen werden und was geschehen wird und unser Kind wird immer wieder sagen „Nein, will ich nicht.“ Allein mit Verständnis kommen wir da nicht gemeinsam weiter. Wichtig ist auch einmal klarzustellen: Das ist jetzt notwendig. Es muss sein. Und vor allem: Ich habe die Verantwortung für Dich und mir ist das wichtig. Es geht nicht nur um die Einfühlung in das Nichtwollen des Kindes, es geht auch darum klar zu kommunizieren: Das muss jetzt sein. Es ist keine Option, es ist Tatsache. Diese Klarheit kann Kindern helfen, sich darauf einzustellen und von der Widerstandshaltung etwas wegzukommen. Ich glaube sogar, dass es der Schlüssel ist, um Arztbesuche wesentlich erträglicher zu gestalten.

Schmerzen zulassen
Es ist wichtig dem Kind zu vermitteln: Das kann weh tun. Ja, das ist unangenehm. Und zu sagen: Du darfst weinen. Das ist erlaubt. Ich muss Dich vielleicht trotzdem festhalten, damit Dir nicht noch mehr weh getan wird. Aber danach ist es auch gleich wieder vorbei. Je mehr wir ihnen zeigen, dass sie ihre Schmerzen ausdrücken können und wir diese wahrnehmen, umso leichter können sie diese ertragen und auch wieder loslassen. Wenn sie spüren, dass wir dennoch gelassen für sie da sind, dann müssen auch sie nicht schon im Vorfeld panisch reagieren.

Gelassenheit
Dieses Wort, das manchmal wie ein Monster in unserem Kopf hämmert. Weil wir es nicht zu fassen bekommen. Weil es uns ständig davonläuft. Aber wenn wir schon panisch werden, weil ein Arztbesuch ausarten könnte, dann fühlt ein Kind sich besonders hilflos. Weil es sich fragt: Wenn die das schon nicht aushalten, wie soll ich das aushalten?
Kinder orientieren sich an uns und je sicherer wir sind und je überzeugter wir uns unserem Tun sind, umso leichter können sie sich von uns leiten, aber auch auffangen lassen.

Ausdauer
Es gibt wirklich unmögliche Ärzte. Aber es gibt auch die guten. Die sanften. Die einfühlsamen. Wir sind auch beim dritten Kinderarzt angelangt. Und wir zahlen dafür, denn er nimmt keine Kassenpatienten. Aber seine Praxis ist sauber und ruhig, es sind immer nur wenige Patienten dort und er nimmt sich mit einer Ruhe und Geduld alle Zeit der Welt. Auch er sah mich verzweifelt an, als er Herrn Klein die ersten Male erlebte. Aber er blieb ruhig. Und dann konnte auch ich ruhig bleiben. Es geht nicht darum, was ein Arzt von unserer Erziehung denkt. Oder was die Wartenden draußen denken. Es geht um uns und unser Kind. Jetzt. In dem Moment. Das sollten wir uns immer wieder bewusst machen. Es lohnt sich also, sich umzuschauen und von Arzt zu Arzt zu pilgern, bis man den einen trifft, der sich Zeit nimmt und auf die Kinder eingeht. Ich selbst wechsle immer wieder die Ärzte, wenn ich mich nicht gut behandelt, nicht gut aufgehoben fühle und wenn ich vor allem das Gefühl habe, nicht ausreichend informiert zu werden. Denn ich möchte wissen, was mit mir ist und vor allem, was mit mir geschieht.

Zahnärzte sind sicher nochmal eine ganz andere Liga. Wir können nicht sehen, was sie tun. Wir sind ihnen kopfüber ausgeliefert und es ist selten angenehm, was sie tun. Vor allem weil wir nur spüren, was sie tun. Und das an ganz empfindlichen Stellen im Mund.

Kinder sollten die Chance bekommen einen Zahnarzt zu besuchen, der sich ihnen einmal nur nähert. Ihnen in den Mund schaut, ohne zu behandeln. Der ihnen spielerisch begegnet und erklärt, was es mit den Zähnen auf sich hat. Warum sie gepflegt gehören. Ohne dabei Angst zu machen. Es gibt spezielle Kinderzahnarztpraxen, die darauf spezialisiert sind. Es lohnt sich, hier ausdauernd zu schauen. Denn die Angst vor Zahnärzten kann uns unser Leben begleiten.

Zahnbehandlungen sollten von mehreren Zahnärzten abgeklärt werden. Denn nicht immer ist etwas schon so akut, wie ein Arzt behauptet. Eine zweite Meinung kann oft Linderung schaffen, kann Zeit geben. Denn was nicht unausweichlich ist, kann zumindest verschiebbar sein. Und alle Zeit, die ein Kind bekommt, ist wertvoll. Weil sich ihr Verständnis Ärzten gegenüber natürlich mit zunehmendem Alter bessert, klarer wird. Aber nur, wenn sie erfahren, dass sie ernst genommen werden. Und wissen, was wirklich notwendig ist und warum.

Es ist nicht leicht, die Kinder durch diese unangenehmen Situationen zu begleiten. Egal ob Abhören, Röntgen, Blutabnahme oder Zahnarztbesuch. Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir ruhig bleiben, nicht panisch werden. Und dass wir ihnen zugestehen, dass sie weinen und schreien dürfen. Und manchmal, da tut es auch gut nach einem Arztbesuch zu sagen: Das war jetzt wirklich furchtbar. Dafür kaufen wir uns jetzt alle ein großes Eis.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Sehr toll geschrieben liebe Nadine.

    Ich habe zum Glück 2 sehr „tapfere“ Jungs, sie Erstaunen mich so oft damit. Letzten Freitag hatten wir auch wieder eine Fahrt im Krankenwagen „gewonnen“ weil meinem Sohn beim Stolpern eine Scherbe in’s Gesicht gesprungen ist. Ich glaube ich habe mehr gelitten als er. Mir war so schlecht vor Angst.
    Beim Kinderarzt war letztens ein kleiner Junge, kaum älter als mein Winterkind, der hat nur geschrien vor dem bunten Teil um ihn zu messen. Mein Kleiner ging hin und sagte „nicht weh tut Du keine Angst brauchst“ dann hörte er verdutzt auf.

    Ich bin mir nicht sicher ob es daran liegt, dass ich meine Kinder seit sie da sind zu nahezu allen Ärzten mitnehmen musste, weil niemand aufpassen konnte. Und weil wir immer genau drüber geredet haben was passiert. Und weil ich immer ehrlich war und auch sagte, wenn etwas weh tat.
    Und natürlich ist eben auch jedes Kind anders. Meine waren sehr neugierig beim Zahnarzt und hatten so viele Fragen und einen tollen Arzt der sehr geduldig und einfühlsam war.

    Ärzte können aber auch viel kaputt machen und ich habe auch schon Ärzte gewechselt deshalb.

    In Frankreich bekommt man übrigens vor dem impfen der Kinder ein Pflaster, das die Stelle leicht betäubt und es nur ganz kurz piekst.
    Lieben Gruß
    Tanja

  2. Katharina

    Ich habe glücklicher weise ein Kind, dass sogar sehr gern zum Arzt geht.
    Er verbindet mit Arztbesuchen nur gute Dinge, obwohl er Angst vor Impfungen hat, aber die sind jetzt nicht mehr so häufig notwendig.

    Ich glaube neben der Wahl des richtigen Arztes ist es wichtig, die Kinder mit zum Arzt zu nehmen wenn noch nichts weh tut oder untersucht werden soll. Dann haben sie Zeit, sich das ganze mal an zu sehen…wie sieht das aus, wenn sie die Mama abhört, was macht der da in Omas Mund…und haben nicht den Druck sich gleich selbst angreifen lassen zu müssen.
    Ganz gut geht das, wenn man das Kind z.B. zur jährlichen Vorsorgeuntersuchung beim Hausarzt mit nimmt. Das hat auch den Effekt, dass der Arztbesuch nicht nur mit krank sein, sondern auch mit gesund bleiben und somit mit etwas positivem verbunden werden kann.

    Lg Kathi

Schreibe einen Kommentar