Das Bedürfnis zu verstehen

IMG_6454Als ich an meinem Online Kurs „Paar sein und Bleiben“ schrieb, spürte ich, wie ich immer wieder versuchte zu begründen, warum es nicht wichtig sei, die Wünschen und Bedürfnissen nur zu erfüllen , sondern ihn in diesen verstehen zu wollen und ernst zu nehmen. Es geht nicht darum, ihn glücklich zu machen, sondern zu verstehen, warum er das gerade (nicht) ist. Ich sah plötzlich, dass das nicht nur wichtig war, sondern dass das – dieses Respektieren, Interessieren und Verstehen wollen – womöglich der wesentliche Schlüssel zu einer guten Beziehung ist. 

Denn letztendlich ist das genau das Stück Fundament, auf dem alles aufbaut. Wenn ich mir nicht einmal die Mühe gebe, meinen Partner verstehen zu wollen, was liegt mir dann an ihm? Wie kann ich dann versuchen seinen Wünschen oder Bedürfnissen nachzugehen? Es geht ja nicht darum, ihn verstehen zu müssen, das ist nicht immer leicht, aber das Bedürfnis zu haben, es zu wollen, zu hinterfragen und nachzuhaken, Interesse zu zeigen und alle Aussagen möglichst ernst zu nehmen – das ist die Grundlage, auf der eine gute, gleichwertige Beziehung basieren kann.

Und dann dachte ich weiter – denn nicht nur in der Beziehung zum Partner ist das so. Auch in der zum eigenen Kind. Wenn ich immer meine zu wissen, was mit dem Kind los ist, was es „jetzt wieder will“, warum es etwas tut oder will (uns manipulieren?) dann fahre ich über die eigentlichen Bedürfnisse des Kindes womöglich (ziemlich sicher) hinweg. Wenn ich mein Kind nicht ausreden lasse, sondern seine Wünsche scheinbar erahne und auch gleich beurteile, wenn ich die Liebe zu meinem Kind an Bedingungen knüpfe („Wenn du brav bist, dann…“), wenn ich es zu einer Person versuche zu erziehen, die es nicht ist, wenn ich ihm nicht zutraue, was es kann und Dinge verlange, zu denen es noch nicht bereit ist, wenn ich ihm nicht vertraue, dann kann ich mein Kind auch nicht verstehen, dann kenne ich es nicht und kann es auch nicht kennenerlernen. Und dann wird es mir immer schwerer fallen es zu verstehen. Und dann kann auch keine Beziehung zu ihm gelingen.

Es ist ein Zeichen von Respekt unseren Mitmenschen mit dem Wunsch nach Verständnis zu begegnen. Dieser Respekt gebührt nicht nur allen Menschen, er allein ermöglicht uns ein gutes Miteinander. Ohne Respekt fühlen wir uns nicht gesehen, nicht gehört und nicht wahrgenommen. Wir können nicht miteinander agieren, sondern haben das Gefühl, nebeneinander zu sein. Dann sind wir ein einziges Nebeneinander.

Dieser Respekt, dieses Verstehen wollen der anderen ist nun auch das, was all die Menschen von uns brauchen, die in unsere Länder geflüchtet kommen, weil bei ihnen Krieg herrscht. Wir sehen, was geschieht, wenn wir keinerlei Interesse an ihnen haben, wenn wir uns nicht bemühen zu verstehen, was sie bewogen hat zu fliehen. Wir hassen, wir fürchten unseren eigenen Stand, wir sind „besorgt“ – um uns natürlich, nicht um die anderen. Das ist es, was geschieht, wenn wir unseren Kindern nicht mit Respekt und Verständnis begegnen – wir begleiten Menschen ins Leben, denen das auch nicht möglich ist. Wir können diese Menschen leider schwer ändern. Aber wir können denen, die es gerade dringender brauchen, respektvoll begegnen und mit ihnen kommunizieren um zu verstehen, was sie wirklich benötigen. Denn nein, sie wollen kein Reis mit Schweinespeck, auch wenn es sonst nichts gibt, sie wollen keine Tampons, weil sie nicht wissen, was sie damit tun sollen, sie brauchen keine Latexunterwäsche oder Badeanzüge, keine Flip Flops. Sie sind nicht undankbar, wenn sie das nicht annehmen. Wir sind ignorant, wenn wir uns nicht darum bemühen, sie verstehen zu wollen.

Oft sind wir heutzutage mit uns selbst beschäftigt, tragen unsere Gedanken und Sorgen mit uns herum und haben wenig Zeit und Energie, letztendlich wenig Willen, uns ernsthaft für unseren Gegenüber zu interessieren. Wir fragen „Wie geht’s?“ und hören der Antwort längst nicht mehr zu. Wir lesen Nachrichten und bewerten diese. 140 Zeichen sind zu wenig für wahres Miteinander. Wir verlieren uns und kämpfen allein. Aber all das muss nicht sein, wenn ich bei meinen engsten Mitmenschen beginne. Wenn ich wieder mehr versuche sie zu verstehen. Mehr aus meiner eigenen Blase trete und mich umschaue. Und dann werde ich merken, dass es gar nicht so schwer ist, andere Menschen zu verstehen. Ich muss nur einmal den Schleier aus Ich und Selbst beiseite schieben.

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