Absturz

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Am Freitag ist gegenüber der Schule des großen Le eine Frau beim Fensterputzen ausgerutscht. Sie fiel, landete kurz auf einem Stromkabel der Straßenbeleuchtung und fiel von dort zu Boden. Sie hatte Glück, die Zwischenlandung dürfte sie gerettet haben. Sie war bei Bewusstsein, wurde erstversorgt und ins Spital gebracht. All das ereignete sich direkt gegenüber des Klassenzimmers, in dem der große Le mit seiner Klasse gerade Musikunterricht hatte.

Die Klasse wurde dann notbetreut, eine Schulpsychologin wurde eingeschaltet und die Kinder so gut es ging versorgt. Der Schock über das Erlebte – die meisten der Kinder haben den Unfall direkt mit angesehen – wurde dabei ganz unterschiedlich verarbeitet. Einige weinten, einige hingen am Fenster und beobachteten die Arbeit der Sanitäter, andere zogen sich zurück.

Am Abend, als der große Le heim kam vom Nachmittag mit seinem Papa, begann er zu erzählen. und hörte nicht mehr auf. Es ist seine Art schwerwiegende Erlebnisse zu verarbeiten. Er redet unentwegt. Über das, was er gesehen hat. Über das, was vielleicht hätte passieren können. Über das, was er mal „wo gehört“ oder „wo gesehen“ hat und über so vieles mehr. Als ich ihn dann ins Bett schicken wollte, bat er mich, ganz bei ihm zu bleiben. Er hatte Angst. Große Angst. Beim Einschlafen hielt ich seine Hand. Als er dann zuckte, dachte ich, er wäre am Einschlafen, aber er weinte auf und sagte, er habe geträumt er würde fallen. Dieser Traum wiederholte sich und ich blieb bei ihm.

Als wir am nächsten Morgen zum Fußballtraining fuhren, betrachtete er die Stromleitungen an den Straßen. „Die sind schon sehr hoch. Von da ist die runtergefallen.“ Alles war noch sehr präsent.

Das ist wohl die unsichtbarste Arbeit, die wir als Eltern leisten. Die Begleitung der Emotionen, der Ängste, der Sorgen und Probleme unserer Kinder. Es ist vielleicht auch die forderndste. Denn hier sind wir plötzlich Therapeuten und Psychologen, am Ende aber doch nur Eltern und nicht selten hilflos. Wir wollen gern die heile Welt unserer Kinder bewahren und dennoch müssen wir mit ansehen, wie sie selbst in der Realität aufprallen. Der Realität, die da Leben heißt. Wir wissen nicht, was auf sie zukommt, egal wie sehr wir hin- und herlaufen und versuchen, sie vor schlimmen und schwierigen Erfahrungen zu bewahren. Wir können nichts tun: nur da sein. Und am Ende ist das womöglich das Allerwichtigste. Da sein. Präsent sein. An solchen Abenden ist es egal wie müde und erschöpft ich bin. Wie leer ich mich schon von meinem Leben fühle. Plötzlich bin ich im Alarmzustand und vollkommen da. Für ihn. Für die anderen beiden. Für uns.

Heute hat er kein einziges Mal mehr davon geredet. Sein eigener Wochenendalltag hat ihn abgelenkt. Auch das ist okay. Eine gute Gratwanderung zwischen Ablenkung und Auseinandersetzung halte ich für sehr gesund. Morgen, wenn er in die Schule geht, wird er sicher sofort wieder damit konfrontiert. Der Blick aus dem Klassenzimmer, die Gespräche mit Klassenkamerad:innen wird alles wieder etwas aufwühlen. Und wie es ihm wirklich geht, das zeigt sich sowieso erst abends. Wenn es dunkel wird. Wenn es ruhig wird um ihn herum.

Und eines ist sicher: Dieses Erlebnis wird ihn, wird uns, noch lange beschäftigen. Und der Dame wünsche ich allerbeste Genesung. Körperlich, aber auch psychisch.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. amberlight

    Das liest sich ja wirklich gruselig – für die Frau und das Kind.

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